Der Schneider himmlischer Hosen
und daher das Telegramm nicht geöffnet hatte. Vielleicht konnte ich den Schlag ein wenig mildern. Dabei fiel mir ein, daß der Tod ihres Vaters einen geeigneten Vorwand bot, sie vom Palast des Herzogs Lan fernzuhalten, wie Elisalex es wünschte.
Armer Signor Cante! Er war nur ein bescheidener Vertreter jener Schar von Heimatflüchtigen, die «alte Chinesen» geworden sind. Nach einem arbeitsreichen, nutzbringenden Leben mußte er in Ausübung seines Berufes sterben, so wie er selbst es vorausgesagt hatte: am Ufer des Gelben Flusses, unter blauem Herbsthimmel. Kann wirklich ein Toskaner aus den Bergen bei Siena so sehr sein Herz an China verlieren, daß er aus freien Stücken auf seinem lebensgefährlichen Posten ausharrt? Ich staunte, und doch verstand ich ihn, denn ich erinnerte mich daran, was er von den unendlichen Ebenen und von der unbeschränkten Weite gesagt hatte, die er zum Leben brauchte wie die Luft zum Atmen. Er liebte die mächtigen Wasser, die vom Dach der Welt herabströmen und sich in weite, leuchtende Fernen verlieren. Die «Kostbare Brücke» — wie Kuniang sie einst nannte — war ihm weit mehr als drei Kilometer eiserner Traversen und steinerner Fundamente in der so oft überschwemmten Ebene. Sie war ihm Spielzeug und Leidenschaft zugleich, ihre Erhaltung Lebensaufgabe — apologia pro vita sua.
Als ich um drei Uhr nachmittags den Palast des Herzogs Lan betrat, kam mir Kuniang aus Pauls Zimmer entgegen. Sie sah blaß aus und hatte tiefe Ringe um die Augen. Sie hängte sich in mich ein und führte mich in den Garten. Dort verständigte ich sie vom Tod ihres Vaters und zeigte ihr das Telegramm. Sie nahm es ruhig in die Hand, fast wortlos. Dann wiederholte sie ein-, zweimal:
«Armer Papa! Er hat es nicht anders erwartet!»
Nach einer Pause fügte sie hinzu:
«Er war so glücklich über unsere Verlobung. Sie hat ihm sicher das Sterben erleichtert.»
«Eines Tages werden wir nach Italien fahren und seine Heimat besuchen.»
Wir sprachen eine Zeitlang von ihm, dann fand ich es angezeigt, nach Pauls Befinden zu fragen.
«Es geht ihm schlecht», sagte sie, «und der Traum wird immer ärger. Paul macht jetzt etwas Entsetzliches durch, das er um jeden Preis zu Ende leben will. Selbst ich spüre es, wenn ich neben ihm sitze. Ich sehe, wie sich sein Gesicht verzerrt, als verbeiße er das Schreien. Dann sagt der Abt etwas auf russisch, und Paul lächelt, lächelt unentwegt, aber das ist noch schlimmer, denn obzwar er schläft, merkt man, daß es ein gezwungenes Lächeln ist. Oft redet er, dann bemühe ich mich, seinen Worten zu entnehmen, was eigentlich vorgeht. Aber ich bringe nichts heraus, obwohl er englisch spricht. Heute, morgens, als er wach war, bat ich ihn, mir davon zu erzählen. Aber er lag bloß da wie betäubt. Ich glaube, er erkannte mich kaum. Seine Gedanken beschäftigen sich ausschließlich mit der Traum-Kuniang und nicht mit der wirklichen.»
«Was spricht er denn aus dem Schlaf?»
«Einmal schrie er plötzlich auf: Und einen Augenblick später flüsterte er fast unhörbar: Ein anderes Mal murmelte er wieder: Heute morgen hielt er eine lange Rede, als gebe er Befehle, und wiederholte immer wieder: »
Kuniang machte eine Pause, und ich sagte:
«Ich verstehe nicht, was daran quälend sein soll.»
«Ich auch nicht, bis auf die Erwähnung der blutigen Diamanten. Aber die Qual in seinen Zügen war kaum mit anzusehen. Und dazu das Gesicht des Abts, ruhig gleich einer Maske. Er kam mir vor wie ein Chirurg, der ohne Betäubungsmittel operiert.»
«Bist du sicher, daß es nicht die Krankheit ist, unter der Paul so leidet?»
«Ganz sicher. Die Stunden des Wachens sind jetzt eine Erlösung für ihn. Früher war es umgekehrt. Als ich ihn verließ, hatte er keine Schmerzen, obgleich er dalag und an mir vorbeistarrte wie ein wildes Tier im Käfig. Der Abt war bei ihm und wollte
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