Der Schneider himmlischer Hosen
werden. Banditen, die etwas auf sich halten, geben sich nicht mit so jämmerlichem Waggongerümpel ab.
Die besser erhaltenen Wagen standen in Charbin und Wladiwostock und wurden von mehr oder weniger hochgestellten Persönlichkeiten bewohnt, die kein anderes Quartier hatten finden können. Die Güterwagen waren mit Flüchtlingen vollgestopft; die Wagen erster und zweiter Klasse mit Offizieren und Beamten von mindestens sechserlei Nationalität. Wenn Kuniang eine «stille Hochzeit» haben wollte, so konnte sie keinen Ort finden, wo unser Tun weniger aufgefallen wäre als in Charbin.
2
Da wir uns an das Leben im Waggon noch nicht recht gewöhnt hatten, versuchten wir, ein Zimmer in der Stadt zu bekommen. Lange Zeit blieben unsere Bemühungen erfolglos. Endlich trafen wir einen chinesischen Zahnarzt, den ich aus besseren Tagen kannte und der sich meiner erinnerte. Er bot uns immerhin eine Art Gastfreundschaft an. Wir verbrachten die Nacht zu dritt in einem Zimmer, Kuniang schlief auf dem Sofa, der Hausherr auf dem Boden (das Sofa war von Rechts wegen sein Bett) und ich auf dem Operationsstuhl.
Heiraten war wesentlich einfacher, als ein Zimmer zu bekommen. Signor Cantes Freund, der italienische Konsul, hatte bereits alle Formalitäten erledigt und führte die Sache im Handumdrehen durch. Und Kuniangs frühere Angst schien vergessen. Der Konsul war untröstlich, uns kein Zimmer anbieten zu können: sein ganzes Haus sei von Offizieren besetzt, die zum italienischen Stab der Interalliierten Sibirien-Kommission gehörten. Darunter befanden sich auch mehrere Irredenti, die Kuniang von Shan-hai-kwan her kannte.
Das bolschewistische Regime hatte noch nicht nach Sibirien übergegriffen, und alle ostwärts fahrenden Züge waren überfüllt mit Flüchtlingen, die einem Terror entrinnen wollten, den man damals noch kaum übersah. Ausländisches Militär hielt die Strecke besetzt: Amerikaner, Briten, Japaner, Franzosen, Italiener. Aber wessen Ansprüche sie verteidigten, das wußte niemand. Die Russen stritten untereinander. Es gab drei Parteien: die Roten, die Weißen und die sogenannten «Radieschen» — außen rot, innen weiß. Bloß darin waren sie sich einig, daß man aus dem Ausland herausschlagen sollte, was ging.
Wir blieben nicht ganz eine Woche in Charbin, aber es genügte, um Einblick in einen Zustand der Verwirrung und des Jammers zu bekommen, der noch selten seinesgleichen gefunden hat. Die Chinesen sahen den Dingen mit mildem Lächeln zu und unterließen es keineswegs, Schlüsse zu ziehen. Der Prestigeverlust des weißen Mannes im Fernen Osten geht nicht zuletzt auf die vielen russischen Flüchtlinge zurück.
Eines Nachmittags — am Tag vor der Abreise nach Dairen beziehungsweise Japan — trafen wir in der Kitaiskaja Elisalex, die eben aus einem Laden kam.
Sie sah krank und müde aus; aber ihre Augen leuchteten auf, als sie Kuniang erblickte. Seltsamerweise fragte sie mit keinem Wort nach dem Grund unseres Aufenthaltes in Charbin, auch nicht nach dem Ziel unserer Reise. Wahrscheinlich wußte sie schon alles.
«Ich vermutete dich im », sagte Kuniang.
«Morgen fahre ich hin, oder vielmehr: morgen trete ich die Reise an. Ich weiß nicht, ob ich je hinkommen werde.»
«Gibt es das denn wirklich?»
«Du wirst von mir hören, sobald ich dort bin.»
«Und wo wohnst du jetzt?»
«In einem Waggon, wie jeder Mensch hier. Rede mir nicht ein, daß ihr in der Stadt Quartier gefunden habt.»
Ich beschrieb meine Nächte im Operationsstuhl, und sie lachte.
«Ihr habt mehr Glück als die anderen», meinte sie. «Ein Jammer, daß ich morgen in aller Frühe wegfahre, sonst hätte ich euch ein Abteil in meinem Wagen angeboten. Jedenfalls seid ihr für eine Nacht willkommen, wenn es euch nichts macht, morgen tim sechs Uhr früh auf den Bahnsteig hinausgeworfen zu werden.»
«Wunderbar», rief Kuniang. «Auch wir fahren morgen weg, nach Dairen. Unser Zug geht um sieben.»
In wenigen Minuten war alles abgemacht. Unser Unterschlupf, das Arbeitszimmer des Zahnarztes (in dem tagsüber ordiniert wurde), lag gleich in der Nähe. Es dauerte nicht lange, bis wir unser bescheidenes Gepäck — drei kleine Handkoffer — zusammengepackt und in einem reichlich wackeligen Vehikel verstaut hatten, das von einem wolligen mongolischen Pony gezogen wurde. Wir installierten uns, so gut es ging, auf den schmalen Sitzen und langten schließlich nach heftigem Gerüttel auf dem
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