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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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jetzt in einem einzigen Schwall aus ihm hervor.
    » Warum ich nicht Anzüge wie Armani machen kann? « sagte er dem verdutzten Mickie mehrmals ins Gesicht. » Warum ich keine Armani-Anzüge machen kann? Gratuliere, Mickie. Du hast soeben tausend Dollar gespart. Also tu mir einen Gefallen. Geh zu Armani und kauf dir einen Anzug und verschon mich mit weiteren Besuchen. Weil nämlich Armani bessere Armani-Anzüge macht als ich. Dort ist die Tür.«
    Mickie rührte sich nicht von der Stelle. Er war wie gelähmt. Wie käme ein Mann von seinen gewaltigen Ausmaßen dazu, sich einen Armani-Anzug von der Stange zu kaufen? Aber Pendel konnte sich nicht mehr bremsen. In seiner Brust tobte ein nicht mehr beherrschbares Chaos aus Scham, Wut und schrecklichen Vorahnungen. Mickie, mein Geschöpf. Mickie, mein Versager, mein Mitgefangener, mein Spion – kommt in mein eigenes sicheres Haus und macht mir Vorwürfe!
    »Mickie, weißt du was? Ein Anzug von mir, der wirbt nicht für den Träger, der definiert ihn. Vielleicht willst du dich nicht definieren lassen. Vielleicht hast du nicht genug, das man definieren könnte.«
    Gelächter aus den Sitzgruppen. Mickie hatte so viel, daß man ihn mühelos mehrfach definieren konnte.
    »Ein Anzug von mir, Mickie, das ist nicht das Gebrüll eines Betrunkenen. Das ist Linie, das ist Form, das ist meisterliche Intuition, das ist Kontur. Das ist das Understatement, das der Welt verkündet, was sie über dich wissen muß, und sonst gar nichts. Der alte Braithwaite nannte das Dezentheit. Wenn jemand einen Anzug von mir bemerkt , ist mir das peinlich, denn dann muß ich was falsch gemacht haben. Meine Anzüge sind nicht dazu da, deine äußere Erscheinung zu verbessern oder dich zum elegantesten Mann im Zimmer zu machen. Meine Anzüge wollen keine Vergleiche provozieren. Sie deuten an. Sie geben zu verstehen. Sie machen den Menschen Mut, auf dich zuzugehen. Sie helfen dir, deine Lebensqualität zu steigern, deine Schulden zu bezahlen, Einfluß auf die Welt zu nehmen. Wenn die Reihe an mir ist, dem alten Braithwaite in die himmlische Tretmühle zu folgen, möchte ich nämlich glauben können, daß Leute, die hier unten auf der Straße in meinen Anzügen herumlaufen, eben deshalb eine bessere Meinung von sich haben.«
    Das mußte jetzt einfach raus, Mickie. Wurde Zeit, etwas von der Last bei dir abzuladen. Er holte Luft, schien sich jedoch, wie ein schluckaufartiges Geräusch andeutete, zurückhalten zu wollen. Und dann kam ihm Mickie glücklicherweise zuvor.
    »Harry«, flüsterte er. »Ich schwöre bei Gott. Es geht nur um die Hose. Sonst nichts. Ich sehe darin aus wie ein alter Mann. Vorzeitig gealtert. Verschon mich mit diesem philosophischen Gefasel. Das weiß ich doch alles selbst.«
    Dann muß in Pendels Kopf ein Signal ertönt sein. Er blickte um sich in die erstaunten Gesichter seiner Kunden; er sah Mickie an, der ihn anstarrte und krampfhaft die umstrittene Alpaka-Hose festhielt, genau wie er selbst einmal die viel zu große orangefarbene Hose seiner Gefängniskluft festgehalten hatte, als habe er Angst, man könnte sie ihm wegnehmen. Er sah Marta, reglos wie eine Statue, ihr zerstörtes Gesicht spiegelte zugleich Mißfallen und Beunruhigung. Er ließ die Fäuste sinken und richtete sich zu voller Größe auf, um schließlich eine bequemere Haltung einzunehmen.
    »Mickie. Die Hose wird tadellos sitzen«, versicherte er in einem verbindlicheren Ton. »Ich war gegen das Hahnentrittmuster, aber du hast darauf bestanden, und du hast recht daran getan. In dieser Hose wird dir die ganze Welt zu Füßen liegen. Das gilt auch für das Jackett. Mickie, hör mir zu. Irgend jemand muß für diesen Anzug die Verantwortung übernehmen, du oder ich. Also, wer soll’s sein?«
    »Meine Güte«, flüsterte Mickie und schlich an Rafis Arm davon.
     
    Der Laden leerte sich, Zeit für den Nachmittagsschlaf. Die Kunden gingen, sie mußten Geld verdienen, Geliebte und Ehefrauen beschwichtigen, Geschäfte machen, auf Pferde setzen, Gerüchte austauschen. Auch Marta war verschwunden. Sie mußte studieren. Den Kopf in ihre Bücher stecken. Pendel war im Zuschneidezimmer und hatte Strawinsky aufgelegt; er räumte die Schnittmuster aus braunem Papier, Stoff, Kreide und Scheren vom Tisch. Dann schlug er die hinteren Seiten seines Schneider-Notizbuchs auf und strich es an der Stelle glatt, wo seine kodierten Eintragungen anfingen. Falls die Attacke auf seinen alten Freund ihn ernüchtert hatte, gestattete er sich

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