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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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nicht, daß ihm das bewußt wurde. Die Muse rief ihn.
    Aus einer Ringkladde mit Rechnungsvordrucken zog er ein Blatt linierten Papiers mit dem königlich anmutenden Hauswappen von Pendel & Braithwaite im Briefkopf; darauf stand in Pendels gestochener Handschrift eine an Mr. Andrew Osnard ausgestellte Rechnung in Höhe von zweieinhalbtausend Dollar, adressiert an dessen Privatwohnung in Paitilla. Nachdem er die Rechnung auf dem Arbeitstisch ausgebreitet hatte, nahm er einen alten Füller, den die Legende Braithwaite zuschrieb, und fügte in einer altmodischen Schrift, die er seit langem für geschäftliche Mitteilungen gebrauchte, die Worte »ich bitte höflich um pünktliche Begleichung« hinzu, was verschlüsselt besagen sollte, daß diese Rechnung mehr bedeute als nur eine Geldforderung. Dann entnahm er einer Mappe aus der mittleren Schublade seines Schreibtischs ein Blatt weißen, unlinierten Papiers ohne Wasserzeichen, das aus dem ihm von Osnard ausgehändigten Paket stammte, und schnüffelte daran, wie er es immer tat. Es roch nach nichts Bekanntem, allenfalls sehr entfernt nach Desinfektionsmitteln, die in Gefängnissen gebraucht werden.
    Getränkt mit magischen Substanzen, Harry. Kohlepapier ohne Kohle, zum einmaligen Gebrauch bestimmt.
    Und was machen Sie dann damit, wenn Sie es bekommen?
    Es entwickeln, Sie Esel, was haben Sie denn gedacht?
    Wo, Andy? Wie?
    Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist. In meinem Badezimmer. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.
    Er legte das Kohlepapier auf die Rechnung, nahm den H2-Bleistift, den Osnard ihm zu diesem Zweck gegeben hatte, und begann unter schallenden Strawinsky-Klängen zu schreiben, bis Strawinsky ihm plötzlich auf die Nerven ging und er ihn abschaltete. Der Teufel weiß immer die besten Lieder, pflegte Tante Ruth zu sagen. Er legte Bach auf, aber für Bach schwärmte Louisa, also schaltete er Bach wieder aus und arbeitete in für ihn ungewohnter freudloser Stille. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen, die Zungenspitze zwischen den Lippen, Mickie entschlossen aus den Gedanken verbannt, und kam allmählich in Fahrt. Sein Ohr horchte auf verdächtige Schritte, auf das verräterische Rascheln eines feindlichen Lauschers hinter der Tür. Sein Blick wanderte unablässig zwischen den Hieroglyphen in seinem Notizbuch und dem Kohlepapier hin und her. Erfinden und verbinden. Sortieren und ausbessern. Vervollkommnen. Bis zur Unkenntlichkeit vergrößern. Verzerren. Aus Chaos Ordnung schaffen. So viel zu sagen. So wenig Zeit. Hinter jeder Ecke ein Japaner. Unterstützt von den Festlandchinesen. Pendel in Hochform. Mal über seinem Stoff schwebend, mal ihm unterworfen. Mal Schöpfergeist, mal sklavischer Bearbeiter seiner Eingebungen; Herr seines Wolkenkuckucksheims, Fürst und Knecht zugleich. Die schwarze Katze immer an seiner Seite. Und wie üblich stecken die Franzosen auch irgendwie mit drin. Ein Ausbruch, Harry, mein Junge, ein Ausbruch der Natur. Ein rasendes Machtgefühl, ein Anschwellen, ein Loslassen, ein Freisetzen. Ein Beherrschen der Welt, ein Erweis der Gnade Gottes, ein Begleichen von Schulden. Ein sündhafter Taumel der Schöpferkraft, des Plünderns und Stehlens, des Entstellens und Neuerfindens, vollführt von einem verzückten, ekstatisch sich hingebenden, zornberauschten Erwachsenen, dessen Buße noch aussteht. Und die Katze schlägt mit dem Schwanz. Nimm ein neues Blatt, zerknüll das alte, schmeiß es in den Papierkorb. Lade nach und feure noch einmal aus allen Rohren. Reiß die Seiten aus dem Notizbuch, verbrenn sie im Kamin.
    »Möchtest du einen Kaffee?« fragte Marta.
    Der größte Verschwörer der Welt hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Im Kamin hinter ihm schlugen die Flammen hoch. Verkohltes Papier wartete, zusammenzufallen.
    »Einen Kaffee nehm ich gern. Danke.«
    Sie machte die Tür hinter sich zu. Steif und ohne zu lächeln.
    »Kann ich dir helfen?«
    Ihr Blick wich ihm aus. Er holte Luft.
    »Ja.«
    »Wie?«
    »Angenommen, die Japaner würden in aller Stille den Plan verfolgen, einen neuen Kanal auf Meereshöhe zu bauen, und sie hätten heimlich die panamaische Regierung gekauft, und die Studenten hätten davon Wind bekommen – was würden sie dann machen?«
    »Die Studenten von heute?«
    »Deine. Die, die mit den Fischern reden.«
    »Einen Aufruhr veranstalten. Auf die Straße gehen. Den Präsidentenpalast angreifen, die Gesetzgebende Versammlung stürmen, den Kanal blockieren, einen Generalstreik ausrufen, sich Unterstützung von

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