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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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das Schloß nach links und rechts, bis es nachgibt. Und dann bedarf es einer weiteren aufmunternden Bemerkung Maltbys, bevor Andy die Tür aufzieht und seinem Botschafter und dem Leiter der Kanzlei mit höhnischer Verneigung bekundet, daß er ihnen den Vortritt läßt. Fran, die am Tisch stehengeblieben ist, erkennt neben einem überdimensionalen roten Telefon, das an eine Art umgebauten Staubsauger angeschlossen ist, einen Stahltresor mit zwei Schlüssellöchern. Ihr Vater, der Richter, hat so einen in seinem Ankleidezimmer.
    »Jeder einen«, hört sie Mellors flöten.
    Plötzlich sieht Fran sich in ihre alte Schulkapelle zurückversetzt, sie kniet in der vordersten Bank und beobachtet eine dichtgedrängte Gruppe hübscher junger Priester, die ihr keusch den Rücken zugewandt haben und sich mit irgendwelchen aufregenden Dingen beschäftigen, um ihr gleich die erste heilige Kommunion zu spenden. Nach und nach hellt sich ihr Blickfeld auf, und sie sieht, wie Andy unter Mellors’ väterlichem Blick Maltby und Stormont je einen langstieligen versilberten Schlüssel aushändigt. Englische Belustigung, an der Andy nicht teilnimmt, kommt auf, als die beiden Männer jeweils das falsche Schlüsselloch versuchen, bis dann Maltby erleichtert › Na bitte ‹ ausruft, und die Tresortür mit einem Klicken aufschwingt.
    Inzwischen aber sieht Fran den Tresor nicht mehr. Ihr Blick ist auf Andy gerichtet, der sprachlos die Goldbarren anstarrt, die Mellors einen nach dem anderen aus seinen schwarzen Schultertaschen nimmt und von Shepherd kreuzweise wie Dominosteine in den Tresor stapeln läßt. Ein letztes Mal schlägt Andys schlaffes Gesicht sie in Bann, denn es sagt ihr alles, was sie jemals über ihn wissen beziehungsweise nicht wissen wollte. Sie weiß, man hat ihn ertappt, und sie ahnt auch schon scharfsinnig, wobei man ihn ertappt hat, auch wenn sie keine Vorstellung hat, ob die, die ihn ertappt haben, sich dessen überhaupt bewußt sind. Sie weiß, er ist ein Lügner, mit oder ohne berufliche Lizenz. Sie kennt die Quelle der fünfzigtausend Dollar, die er auf Rot gesetzt hat. Die Tür dazu steht geöffnet vor ihr. Sie versteht nur zu gut, warum er so wütend ist, daß man ihn zur Herausgabe der Schlüssel gezwungen hat. Und dann sieht sie nichts mehr, teils weil ihr Blick sich vor Beschämung und Selbstekel getrübt hat, teils weil Maltbys plumpe Gestalt nun vor ihr aufgetaucht ist, und er sie mit piratenhaftem Grinsen fragt, ob sie es für einen Frevel an der Schöpfung halte, wenn er sie zu einem gekochten Ei im Pavo Real einladen würde.
    »Phoebe will mich verlassen«, erklärt er stolz. »Die Scheidung ist schon so gut wie gelaufen. Nigel wird sein Herz in beide Hände nehmen und es ihr mitteilen. Wenn ich es ihr sage, glaubt sie’s sowieso nicht.«
    Fran zögerte mit einer Antwort, denn instinktiv wäre sie am liebsten zurückgewichen und hätte das Angebot dankend abgelehnt. Aber bei weiterem Nachdenken wurden ihr einige Dinge klar, die sie auch schon früher hätte sehen können. Zum Beispiel, daß Maltbys Zuneigung zu ihr sie schon seit Monaten nicht mehr kaltließ; daß sie Dankbarkeit für die Nähe eines Mannes empfand, der sich so verzweifelt nach ihr verzehrte; und daß Maltbys schüchterne Verehrung ihr ein unschätzbarer Rückhalt gewesen war, als sie mit der Erkenntnis gerungen hatte, daß sie ihr Leben mit einem unmoralischen Menschen teilte, dessen Scham- und Skrupellosigkeit sie anfangs angezogen hatte, jetzt jedoch abstieß, dessen Interesse an ihr nie anders als eigennützig und sexuell motiviert gewesen war und der in ihr letztlich nur ein heftiges Verlangen nach der unbeholfenen Zuneigung des Botschafters geweckt hatte.
    Und am Ende dieser rationalen Überlegungen stellte sie fest, daß sie schon lange nicht mehr so dankbar für eine Einladung gewesen war.
     
    Marta kauerte auf der Arbeitsbank der Näherinnen, betrachtete das Geldbündel, das er ihr aufgedrängt hatte, und dachte: sein Freund Mickie ist tot, er glaubt, er habe ihn umgebracht, und vielleicht stimmt das sogar; die Polizei überwacht ihn, aber ich soll in Miami am Strand sitzen, das Lunchbüfett im Grand Bay essen, mir Kleider kaufen und warten, bis er nachkommt. Und glücklich sein und an ihn glauben und in der Sonne liegen und mir das Gesicht operieren lassen. Und mir einen Jungen nehmen, wenn’s geht, denn einen hübschen Jungen, den gönnt er mir, einen stellvertretenden Harry Pendel, der mich an seiner Statt liebt, während er

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