Der Schneider
die Stelle, wo im Jahre 1989 der Schneider Pendel, nachdem er die Tür zugemacht hatte, sich hat hinreißen lassen, Marta in seine Arme zu schließen und ihr seine unsterbliche Liebe zu beteuern. Der Schneider Pendel schlug vor, ein Stundenhotel aufzusuchen, doch Marta zog es vor, ihn mit in ihre Wohnung zu nehmen, und auf der Fahrt dorthin erlitt Marta jene Gesichtsverletzungen, von deren Narben sie zeitlebens gezeichnet war; und es war ihr Kommilitone Abraxas, der den feigen Arzt dazu anstiftete, sie für immer zu entstellen – der Arzt hatte solche Angst, seine gutgehende Praxis zu verlieren, daß er die Hände nicht stillhalten konnte. Hinterher war dieser Arzt so klug, Abraxas zu denunzieren, eine Tat, die letztlich dessen Untergang herbeiführte.
Marta schloß die Tür vor ihrem toten Ich und ging weiter durch den Flur zu Pendels Zuschneidezimmer. Ich lege ihm das Geld in die Schublade oben links. Die Tür war angelehnt. Im Zimmer brannte Licht. Marta war nicht überrascht. Noch bis vor kurzem hatte ihr Harry eine schier unmenschliche Disziplin geübt, aber in den letzten Wochen war das Vernähen seiner allzu vielen Leben einfach über seine Kräfte gegangen. Sie stieß die Tür auf. Wir befinden uns jetzt im Zuschneidezimmer des Schneiders Pendel, Kunden und Angestellten gleichermaßen als das Allerheiligste bekannt. Niemand durfte hier ohne anzuklopfen eintreten, oder gar in seiner Abwesenheit – seine Frau Louisa offenbar ausgenommen, denn die saß dort am Schreibtisch ihres Mannes, eine Brille auf der Nase und einen Stapel seiner alten Notizbücher neben sich, und vor sich etliche Bleistifte, ein Auftragsbuch und eine Dose Insektenspray, die unten geöffnet war; sie spielte gerade mit dem reichverzierten Feuerzeug, das Harry angeblich von einem reichen Araber bekommen hatte, nur daß in den Büchern von P & B keine reichen Araber verzeichnet waren.
Sie trug einen dünnen roten Baumwollmorgenmantel, darunter anscheinend nichts, denn als sie sich vorbeugte, kamen ihre Brüste vollständig zum Vorschein. Das Feuerzeug an- und ausklickend, lächelte sie Marta durch die Flamme an.
»Wo ist mein Mann?« fragte Louisa.
Klick.
»Er ist nach Guararé gefahren«, antwortete Marta. »Mickie Abraxas hat sich beim Feuerwerk umgebracht.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch. Ihrem Mann auch.«
»Andererseits überrascht es mich nicht. Wir haben das seit fünf Jahren kommen sehen«, erklärte Louisa recht vernünftig.
Klick.
»Er war entsetzt«, sagte Marta.
»Mickie?«
»Ihr Mann«, sagte Marta.
»Warum führt mein Mann für Mr. Osnards Anzüge ein besonderes Rechnungsbuch?«
Klick.
»Das weiß ich nicht. Mich wundert das auch«, sagte Marta.
»Sind Sie seine Geliebte?«
»Nein.«
»Hat er eine?«
Klick.
»Nein.«
»Ist das sein Geld, was Sie da in der Hand haben?«
»Ja.«
»Warum?«
Klick.
»Er hat es mir gegeben«, sagte Marta.
»Fürs Bumsen?«
»Weil ich es für ihn verwahren soll. Er hatte es in der Tasche, als er die Nachricht bekam.«
»Woher stammt es?«
Klick, und eine Flamme, die Louisas linkes Auge so nah beleuchtete, daß Marta sich fragte, warum die Braue und der dünne rote Morgenmantel nicht Feuer fingen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Marta. »Manche Kunden zahlen in bar. Er weiß nicht immer, was er damit anfangen soll. Er liebt Sie. Er liebt seine Familie mehr als alles auf der Welt. Auch Mickie hat er geliebt.«
»Liebt er sonst noch jemanden?«
»Ja.«
»Wen?«
»Mich.«
Sie betrachtete ein Stück Papier. »Ist das Mr. Osnards korrekte Adresse? Torre del Mar? Punta Paitilla?«
Klick.
»Ja«, sagte Marta.
Das Gespräch war beendet, aber Marta merkte es noch nicht, denn Louisa klickte weiter mit dem Feuerzeug herum und lächelte in die Flamme. Und sie klickte und lächelte noch ziemlich oft, bevor Marta erkannte, daß Louisa betrunken war, wie Martas Bruder sich zu betrinken pflegte, wenn er mit dem Leben nicht mehr fertig wurde. Nicht beschwipst oder benebelt, sondern im Gegenteil hellsichtig und vollkommen klar im Kopf. Betrunken von all dem Wissen, das sie mit ihrer Trinkerei hatte loswerden wollen. Und splitternackt in ihrem Morgenrock.
21
Es war zwanzig nach eins in derselben Nacht, als es an Osnards Haustür klingelte. Er befand sich seit einer Stunde im Zustand fortgeschrittener Nüchternheit. Zuvor hatte er, noch wütend über seine Niederlage, von grausamen Methoden geträumt, wie er sich seinen verhaßten Gast vom Hals schaffen könnte: Er
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