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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Zellengenosse und als Opfer von Pendels Verrat hatte Mickie die ganze Störrischkeit seiner Körpergröße. Als Pendel ihm die Hände unter die Achseln schob, machte Mickie sich nur noch schwerer; Pendel mußte sich gewaltig anstrengen, um ihn hochzuheben, und noch mehr, damit er ihm nicht auf halbem Weg wieder zusammenbrach. Und es war eine Menge Polster- und Verbandsmaterial nötig, bis beide Kopfhälften einigermaßen ebenmäßig aussahen. Aber irgendwie konnte Pendel das alles bewältigen, und als Ana zurückkam, sagte er ihr unverzüglich, sie müsse Mickie die Nase zuhalten, und wickelte den Verband darüber und darunter, damit Mickie noch Luft zum Atmen bekam – ein Unterfangen, das auf seine Weise ebenso aussichtslos war wie der Wiederbelebungsversuch bei Spider, aber in Mickies Fall immerhin einem bestimmten Zweck diente. Pendel schlang ihm die Bandagen schräg um den Kopf und achtete darauf, das verbliebene Auge freizulassen, damit Mickie noch etwas sehen konnte, denn was auch immer Mickie getan haben mochte, als er den Schuß auslöste, gestorben war er jedenfalls mit diesem einen, vor Entsetzen weit aufgerissenen Auge. Und als Pendel endlich mit dem Verband fertig war, ließ er sich von Ana dabei helfen, den Sessel samt Mickie bis an die Haustür zu schleppen.
    »Die Leute in meinem Heimatort haben ein echtes Problem«, vertraute Ana ihm an, die offenbar ein Bedürfnis nach Nähe hatte. »Ihr Priester ist schwul, und sie hassen ihn; der Priester im Nachbarort vögelt jedes Mädchen, und den lieben sie. In kleinen Orten hat man nun mal solche menschlichen Probleme.« Sie unterbrach sich und holte Luft, bevor sie sich wieder mit dem Sessel abmühte. »Meine alte Tante ist da sehr streng. Sie hat sich schriftlich beim Bischof beschwert, daß Priester, die vögeln, keine richtigen Priester sind.« Sie lachte gewinnend. »Der Bischof hat ihr geantwortet: ›Versuchen Sie das mal meiner Gemeinde zu erklären; dann werden Sie schon sehen, was die mit Ihnen machen.‹«
    Auch Pendel lachte. »Hört sich nach einem guten Bischof an«, sagte er.
    »Könntest du Priester sein?« fragte sie, den Sessel weiterschiebend. »Mein Bruder ist echt religiös. ›Ana‹, sagt er, ›ich glaube, ich werde Priester.‹ ›Du spinnst ja‹, sage ich. Er hat noch nie ein Mädchen gehabt, das ist sein Problem. Vielleicht ist er schwul.«
    »Schließ die Tür hinter mir ab und mach erst wieder auf, wenn ich zurückkomme«, sagte Pendel. »Okay?«
    »Okay. Ich schließe die Tür ab.«
    »Ich klopfe dreimal leise, einmal laut. In Ordnung?«
    »Ob ich mir das merken kann?«
    »Aber sicher.«
    Und da sie schon sehr viel gefaßter wirkte, meinte er, sie weiter stabilisieren zu können, indem er sie umdrehte und ihre große gemeinsame Leistung bewundern ließ: Wände, Fußboden und Möbel wieder schön sauber, und statt eines toten Geliebten bloß ein weiteres Opfer des Feuerwerks von Guararé, ein Verletzter, der mit einem improvisierten Verband und einem unverletzten Auge stoisch neben der Tür saß und darauf wartete, daß sein alter Freund ihn zum Geländewagen brachte.
     
    Pendel hatte den Geländewagen im Schneckentempo durch die Engel gesteuert, und die Engel hatten dem Wagen Klapse verpaßt wie einem Pferd und Hühott, Gringo! gerufen und Knallkörper darunter geworfen, und zwei Burschen waren auf die hintere Stoßstange gesprungen, und man hatte erfolglos versucht, eine Schönheitskönigin auf die Kühlerhaube zu setzen, aber sie hatte Angst, sich den weißen Rock schmutzig zu machen, und Pendel ermutigte sie auch nicht weiter, denn jetzt war nicht die Zeit, Anhalter mitzunehmen. Ansonsten war es eine ereignislose Fahrt gewesen, die ihm die Möglichkeit gegeben hatte, seinen Plan genauer zu durchdenken, wie Osnard es ihm in den Unterweisungsstunden eingehämmert hatte: Vorbereitungszeit ist niemals vergeudete Zeit, der große Trick dabei ist, daß man eine verdeckte Operation vom Standpunkt jedes einzelnen Beteiligten betrachtet und sich jedesmal fragt: Was macht er? Was macht sie? Wohin verziehen sich alle hinterher? Und so weiter.
    Er klopfte dreimal leise und einmal laut, aber es tat sich nichts. Er klopfte noch einmal und hörte ein munteres »Komme!«, und als Ana die Tür aufmachte – nur halb, weil Mickie noch dahinter saß –, sah er in dem von draußen hereinfallenden Licht, daß sie die Haare nach hinten gekämmt und eine saubere Bluse angezogen hatte, schulterfrei wie die der anderen Engel, und daß die

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