Der Schneider
Verandatüren offenstanden, damit der Pulverdampf hinein- und der Geruch von Blut und Desinfektionsmitteln abziehen konnte.
»Im Schlafzimmer steht ein Schreibtisch«, sagte er.
»Und?«
»Sieh nach, ob Schreibpapier in der Schublade ist. Und ein Bleistift oder so was. Schreib ›Ambulanz‹ auf einen Zettel, den ich aufs Armaturenbrett legen kann.«
»Du willst dich als Ambulanz ausgeben? Echt cool.«
Sie hüpfte wie ein Mädchen auf einer Party zum Schlafzimmer, und er nahm Mickies Pistole aus der Schublade und steckte sie sich in die Hosentasche. Er kannte sich mit Pistolen nicht aus, und diese hier war zwar nicht groß, aber ziemlich wirkungsvoll, wie das Loch in Mickies Kopf gezeigt hatte. Dann fiel ihm ein, daß er auch ein Messer gebrauchen könnte; er nahm sich aus der Küchenschublade eins mit gezackter Schneide, wickelte es in Papierhandtücher und steckte es ein. Ana kam triumphierend zurück: Sie hatte ein Malbuch und ein paar Buntstifte gefunden, und der einzige Schönheitsfehler an ihrem Schild war, daß sie in der Begeisterung das »1« von Ambulancia vergessen hatte. Ansonsten war es in Ordnung, und er ging damit die Stufen zu seinem Geländewagen runter, legte es aufs Armaturenbrett und schaltete die Warnblinkanlage ein, um die Leute zu beschwichtigen, die sich hinter ihm stauten und mit wildem Gehupe verlangten, daß er den Weg freimachte.
Nun kam Pendel auch sein Humor zu Hilfe, denn auf der Treppe wandte er sich zu seinen Kritikern herum, faltete wie zum Gebet die Hände und bat lächelnd um Nachsicht; nur noch eine Minute von ihnen erflehend, hob er einen Finger, dann stieß er die Tür auf und knipste die Eingangslampe an, damit jeder Mickies bandagierten Kopf und sein eines Auge sehen konnte. Das Hupen und Schreien wurde daraufhin merklich leiser.
»Leg ihm die Jacke um die Schultern, wenn ich ihn hochgehoben habe«, sagte er zu Ana. »Halt. Moment noch.«
Pendel ging wie ein Gewichtheber in die Hocke und erinnerte sich daran, daß er nicht nur ein mörderischer Verräter, sondern auch ein kräftiger Mann war, und daß die Kraft in Schenkeln und Gesäß und Bauch und Schultern saß, und daß er in der Vergangenheit oft genug Gelegenheit gehabt hatte, Mickie nach Hause zu tragen; und jetzt war es kaum anders, nur schwitzte Mickie nicht, noch konnte er sich übergeben und bettelte auch nicht darum, ins Gefängnis zurückgebracht zu werden, womit er freilich nur seine Frau gemeint hatte.
Mit diesen Gedanken im Kopf umschlang Pendel Mickies Rücken und stellte ihn auf die Füße, aber Mickies Beine waren nicht stark genug, und schlimmer noch, er war nicht ins Gleichgewicht zu bringen, weil Mickie in der feuchten Hitze der Nacht kaum steif geworden war. Um so steifer mußte sich Pendel machen, als er seinem Freund über die Schwelle half und ihn, mit einem Arm auf dem Eisengeländer und aller Kraft, die ihm die Götter je verliehen hatten, die erste der vier Stufen zum Geländewagen hinunterbugsierte. Mickies Kopf lag jetzt auf seiner Schulter, er konnte das Blut durch die Streifen des Bettlakens riechen. Ana hatte Mickie die Jacke über den Rücken gehängt, und Pendel wußte selbst nicht mehr genau, warum er sie das hatte tun lassen, vielleicht, weil es eine wirklich gute Jacke war und er die Vorstellung nicht ertragen konnte, daß Ana sie dem erstbesten Bettler auf der Straße schenkte, oder vielleicht auch, weil er wollte, daß die Jacke an Mickies Ruhm teilhaben sollte, denn jetzt brechen wir auf, Mickie – dritte Stufe –, wir sind auf dem Weg zum Ruhm, du wirst der schönste Junge im Saal sein, der bestgekleidete Held, den die Mädchen je gesehen haben.
»Geh vor, mach die Autotür auf«, sagte er zu Ana, worauf Mickie wieder einmal, ebenso vertraut wie unvorhersehbar, auf seinem eigenen Willen bestand und die Sache selbst in die Hand zu nehmen beschloß: diesmal, indem er von der untersten Stufe in freiem Fall auf das Auto zustürzte. Aber Pendel hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Zwei Jungen, von Ana herbeigerufen, fingen Mickie mit ausgebreiteten Armen auf – Ana war eins dieser Mädchen, die, wenn sie nur auf die Straße treten, die Jungen automatisch anziehen.
»Seid vorsichtig«, befahl sie ihnen streng. »Wahrscheinlich ist er ohnmächtig.«
»Er hat die Augen offen«, sagte einer der Jungen in der klassischen falschen Annahme, daß, wo ein Auge zu sehen ist, das andere auch nicht fehlen kann.
»Legt ihn mit dem Kopf nach hinten«, befahl Pendel.
Aber dann
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