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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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sich ein züchtiger weißer Schleier gebildet. Die zahllosen Sterne sahen aus wie Staub.
    Der Pfad war zu Ende, aber Pendel fuhr weiter. Wunderbar, was so ein Geländewagen alles schafft. Gigantische Kakteen erhoben sich wie geschwärzte Soldaten links und rechts von ihm. Halt! Aussteigen! Hände aufs Verdeck legen! Papiere! Er fuhr weiter, an einem Schild vorbei, das ihm das untersagte. Er dachte an die Reifenspuren. Damit können sie den Geländewagen identifizieren. Wie denn? Sollten sie sich die Reifen aller Geländewagen in Panama ansehen? Er dachte an Fußspuren. Meine Schuhe. Sie finden meine Schuhe. Wie? Er dachte an die Luchse. Er dachte an Marta. Du bist ein Spion, haben sie gesagt. Mickie ist auch einer, haben sie gesagt. Und ich habe das auch gesagt. Er dachte an den Bären. Er dachte an Louisas Augen, die zu angstvoll waren, um die einzige Frage zu stellen, die noch geblieben war: Harry, bist du verrückt geworden? Die Zurechnungsfähigen sind verrückter, als wir jemals ahnen können, dachte er. Und die Verrückten sind weitaus zurechnungsfähiger, als manche von uns sich das vorstellen.
    Er brachte den Wagen langsam zum Stehen und sah sich dabei den Boden an. Er suchte eine steinharte Stelle. Hier war eine. Weißer, poröser, korallenartiger Fels, auf dem seit Millionen Jahren keine Fußspur zurückgeblieben war. Er stieg aus, ließ die Scheinwerfer an und ging zum Heck des Geländewagens, wo er für alle Fälle ein Abschleppseil liegen hatte. Er suchte hektisch nach dem Küchenmesser, bis ihm einfiel, daß er es in die Tasche von Mickies Smokingjacke gesteckt hatte. Er schnitt einen guten Meter von dem Seil ab, ging zu Mickies Seite, öffnete die Tür, zog ihn heraus und legte ihn sachte auf die Erde, verkehrt herum, aber nicht mehr mit dem Hintern nach oben, denn nach der Fahrt wollte Mickie jetzt lieber auf der Seite liegen und nicht mehr auf seinem dicken Bauch.
    Pendel nahm Mickies Arme, bog sie ihm auf den Rücken und band ihm die Handgelenke zusammen: ein nicht sehr eleganter Knoten, aber fest. Um nicht den Verstand zu verlieren, dachte er dabei ausschließlich an praktische Dinge. Die Jacke. Was hätten sie mit der Jacke gemacht? Er holte die Jacke aus dem Wagen und legte sie Mickie wie einen Umhang um die Schultern, so, wie er sie wahrscheinlich auch getragen hätte. Dann nahm er die Pistole aus der Tasche und überprüfte im Licht der Scheinwerfer, ob sie gesichert war; und natürlich hatte er die Waffe die ganze Zeit über entsichert mit sich herumgeschleppt – wie anders als entsichert hätte Mickie sie auch zurücklassen sollen, nachdem er sich das Gehirn weggepustet hatte?
    Dann setzte er den Wagen zurück, ein kleines Stück von Mickie weg, ohne selbst genau zu wissen, warum er das tat, nur daß er das, was er jetzt tun mußte, nicht bei so greller Beleuchtung machen wollte; Mickie sollte bei dieser Prozedur möglichst ungestört bleiben, schließlich war es so etwas wie eine heilige Handlung, wenn auch eine primitive, man könnte sagen urzeitliche – hier, im Zentrum einer elftausend Jahre alten Indiosiedlung, wo überall Pfeilspitzen und Faustkeile herumlagen, die Louisa den Kindern erlaubt hatte einzusammeln, dann aber wieder zurückgelegt hatte, denn wenn das jeder machte, wären am Ende gar keine mehr da. Hier, in dieser von Menschen und Mangroven geschaffenen Wüste, die so salzhaltig war, daß sogar der Erdboden tot war.
     
    Nachdem er den Wagen zurückgesetzt hatte, ging er zu der Leiche zurück, kniete sich daneben und wickelte behutsam die Bandagen ab, bis Mickies Gesicht wieder fast so aussah wie vorher auf dem Küchenboden, nur ein wenig älter, ein wenig sauberer und, zumindest in Pendels Vorstellung, ein wenig heldenhafter.
    Mickie , mein Junge , eines Tages , wenn Panama von allem befreit ist , was dir nicht gefallen hat , hängt dein Gesicht dort , wo es hingehört : im Saal der Märtyrer im Präsidentenpalast , sagte er in seinem Herzen zu Mickie. Und es tut mir sehr leid , Mickie , daß du mich jemals kennengelernt hast , denn niemand sollte mich kennenlernen .
    Er hätte gerne laut gesprochen, doch waren ihm nur noch innere Stimmen geblieben. Also blickte er sich ein letztes Mal um, und als er niemanden sah, der etwas dagegen haben könnte, feuerte er so liebevoll, als ob er einem kranken Haustier den Gnadenschuß versetzte, zwei Schüsse ab, einen unter das linke Schulterblatt und einen unter das rechte. Bleivergiftung , Andy , dachte er und erinnerte sich an das

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