Der Schneider
sich nicht, wandte nicht den Kopf – was ihn vermuten ließ, daß sie auf ihre Weise ebenso tot war wie Mickie; Mickie hatte auch sie umgebracht, hatte sie mit in den Tod gerissen. Sie hatte versucht, ihn glücklich zu machen, sie hatte ihn gesäubert und das Bett mit ihm geteilt, und jetzt hatte er sie erschossen: Nimm das für deine Mühe. Einen Augenblick lang war Pendel auf Mickie wütend, er beschuldigte ihn einer grausamen Tat, nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen seine Frau, seine Geliebte, seine Kinder und nicht zuletzt gegen seinen Freund Harry Pendel.
Dann freilich erinnerte er sich an seine eigene Verantwortung in dieser Sache, an seine Darstellung von Mickie als großem Spion und Widerstandskämpfer; und er versuchte, sich vorzustellen, was Mickie empfunden haben mochte, als die Polizei beim ihm auftauchte und sagte, er müsse ins Gefängnis zurück; und die Tatsache seiner Schuld fegte mit einemmal jeden bequemen Gedanken an Mickies unerhebliche Stümperei als Selbstmörder beiseite.
Er berührte Ana an der Schulter, und als sie sich immer noch nicht bewegte, flackerte ein Restgefühl seiner Verantwortung als guter Unterhalter in ihm auf: Diese Frau muß ein wenig aufgemuntert werden. Er schob ihr die Hände unter die Achseln, zog sie hoch und drückte sie an sich, und sie war so starr und kalt, wie wohl auch Mickie es war. Offenbar hatte sie so lange und ohne die Haltung zu verändern über Mickie gewacht, daß seine Stille und Gelassenheit sich irgendwie auf sie übertragen hatten. Sie war von Natur aus eine sprunghafte, heitere, übermütige Person, soweit Pendel das nach den wenigen Begegnungen mit ihr beurteilen konnte, und wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie so lange reglos auf einen Fleck gestarrt. Zuerst hatte sie geschrien, getobt und gejammert – vermutete Pendel, der an ihren Anruf dachte –, und als sie alles losgeworden war, hatte sie nur noch still vor sich hinsehen können. Und mit zunehmender Ruhe war sie erstarrt, und deswegen fühlte sie sich jetzt so steif an, deswegen klapperte sie mit den Zähnen, deswegen konnte sie seine Frage wegen der Fenster nicht beantworten.
Er sah sich nach etwas um, das er ihr zu trinken geben könnte, fand aber nur drei leere Whiskyflaschen und eine halbleere Flasche seco und entschied von sich aus, daß seco nicht das Richtige war. Also führte er sie zu einem Korbsessel und setzte sie hinein, dann nahm er Streichhölzer, machte den Gasherd an und setzte einen Topf mit Wasser auf, und als er sich zu ihr umwandte, sah er, daß ihre Augen wieder zu Mickie gefunden hatten; er ging daher ins Schlafzimmer, nahm die Tagesdecke vom Bett und legte sie über Mickies Kopf. Dabei bekam er zum erstenmal den warmen rostigen Geruch seines Bluts in die Nase – trotz der Schwaden von Pulverdampf und Küchendünsten und beißendem Rauch, die von der Veranda hereinwehten, während draußen auf dem Platz knallend und zischend das Feuerwerk weiterging und die Jungen die Mädchen zum Kreischen brachten, wenn sie die Kracher bis zum allerletzten Augenblick festhielten und sie ihnen erst dann vor die Füße warfen. Pendel und Ana hätten sich das alles jederzeit ansehen können, sie brauchten nur den Blick von Mickie abzuwenden und aus den Verandafenstern zu sehen, um an dem Spaß teilzuhaben.
»Schaff ihn hier weg«, stieß sie aus dem Korbsessel hervor. Und dann viel lauter: »Mein Vater bringt mich um. Schaff ihn weg. Er ist ein britischer Spion. Das hat man mir gesagt. Du bist auch einer.«
»Ganz ruhig«, sagte Pendel zu seiner eigenen Überraschung.
Und plötzlich ging mit Harry Pendel eine Veränderung vor. Er war kein neuer Mensch, sondern endlich er selbst, ein Mann, der sich im vollen Besitz seiner Kräfte sah. In einem glorreichen Lichtstrahl der Offenbarung erblickte er jenseits von Melancholie, Tod und Passivität eine großartige Bestätigung seines Lebens als Künstler, es war ein einziger harmonischer Akt des Widerstands, der Rache und der Versöhnung, ein majestätischer Sprung in ein Reich, in dem alle nachteiligen Beschränkungen durch die Realität von der größeren Wahrheit des Schöpfertraums hinweggefegt werden.
Und irgendein Anzeichen von Pendels Wiederauferstehung mußte sich Ana mitgeteilt haben, denn nach einigen Schlucken Kaffee setzte sie die Tasse ab und half ihm: erst füllte sie das Becken mit Wasser und rührte ein Desinfektionsmittel hinein, dann holte sie einen Besen, einen Gummischrubber, ein paar
Weitere Kostenlose Bücher