Der Schneider
immer brachte sie die zärtlichen Worte nicht über die Lippen.
»Harry?« – als ob sie immer noch auf ihn wartete.
»Ja, Schatz?«
»Du brauchst mir nicht zu schmeicheln, Harry«, gab sie zurück; das war ihre Art, ein Wort wie »Schatz« zu vergelten. Aber was auch immer sie sonst noch sagen wollte, sagte sie nicht.
»Wir haben das ganze Wochenende, Lou. Schließlich will ich mich ja nicht aus dem Staub machen.« Eine Pause, endlos wie der Pazifik. »Wie war’s mit Ernie heute? Er ist ein großartiger Mensch, Louisa. Ich weiß auch nicht, warum ich dich immer seinetwegen aufziehen muß. Er ist genauso ein großer Mann wie dein Vater. Ich sollte zu seinen Füßen sitzen.«
Es hat mit ihrer Schwester zu tun, dachte er. Wenn sie wütend wird, dann nur, weil sie eifersüchtig auf ihre Schwester ist, die an jedem Finger zehn Männer hat.
»Er hat fünftausend angezahlt, Lou« – Anerkennung heischend – »bar auf die Hand. Er fühlt sich einsam. Er braucht ein bißchen Gesellschaft. Was soll ich denn machen? Ihn in die Nacht rausjagen, ihm sagen, danke, daß Sie mir zehn Anzüge abgekauft haben, und jetzt schwirren Sie ab und suchen sich ’ne Frau?«
»Harry, das brauchst du ihm alles nicht zu sagen. Du kannst ihn gern zu uns nach Hause mitbringen. Und wenn wir nicht gut genug sind, tu, was du tun mußt, und quäl dich nicht weiter deswegen.«
Wieder diese Zärtlichkeit in ihrer Stimme: So sprach die Louisa, die sie viel lieber gewesen wäre als die, die ihr die Worte eingab.
»Alles in Ordnung?« fragte Osnard leichthin.
Er hatte den Whisky für die Gäste und zwei Gläser gefunden. Eins gab er Pendel.
»Alles bestens, danke. Eine Frau wie sie findet man nicht noch einmal.«
Pendel stand allein im Lager. Er zog den Tagesanzug aus und hängte ihn aus alter Gewohnheit auf den Bügel, die Hose an die Metallklammern, das Jackett ordentlich darüber. Dann entschied er sich, nun einen graublauen Einreiher aus Mohair anzuziehen, den er sich vor sechs Monaten zu Mozarts Musik geschneidert, aber noch nie getragen hatte, weil er fürchtete, er könnte zu auffällig wirken. Sein Gesicht im Spiegel erschreckte ihn, so normal schaute er drein. Warum hast du nicht die Farbe gewechselt, die Größe, die Form? Was muß denn noch alles geschehen, bevor mit dir was geschieht? Du stehst morgens auf. Dein Bankdirektor bestätigt das nahe Ende der Welt. Dann bist du im Laden, und ein englischer Spion marschiert herein, der dich mit deiner Vergangenheit konfrontiert und dir sagt, daß er dich reich machen und nichts an deinen Verhältnissen ändern will.
»Ihr Vorname war Andrew?« rief er durch die offene Tür. Beginn einer neuen Freundschaft.
»Andy Osnard, ledig, Mitarbeiter der britischen Botschaft in der politischen Tretmühle, frisch im Land eingetroffen. Der alte Braithwaite hat für meinen Vater Anzüge gemacht, und Sie waren auch dabei und haben das Maßband gehalten. Geht doch nichts über eine gute Tarnung.«
Und diese Krawatte, die mir schon immer so gefallen hat, dachte Pendel. Die mit dem blauen Zickzackmuster und dem Hauch von Rosa. Während Osnard ihn mit Schöpferstolz beobachtete, stellte Pendel die Alarmanlage an.
5
Es hatte aufgehört zu regnen. Die bunt beleuchteten Busse, die durch die Schlaglöcher an ihnen vorbeiholperten, waren leer. Ein blauer Abendhimmel verlor sich in der Nacht, doch die Wärme blieb zurück, wie immer in Panama City. Es gibt trockene Hitze, es gibt feuchte Hitze. Hitze gibt es immer, ebenso wie Lärm: von Autos, Preßlufthämmern, dem Auf- und Abbau von Gerüsten, Flugzeugen, Klimaanlagen, Konservenmusik, Bulldozern, Hubschraubern und – wenn man sehr viel Glück hat – von Vögeln. Osnard zog seinen Buchmacherschirm hinter sich her. Pendel, wenngleich auf der Hut, war unbewaffnet. Die eigenen Gefühle waren ihm ein Rätsel. Er war geprüft worden, er war stärker und klüger daraus hervorgegangen. Geprüft, aber wofür? Stärker und klüger, in welcher Beziehung? Und wenn er bestanden hatte, warum war er dann jetzt nicht zuversichtlicher? Dennoch fühlte er sich nach dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre wie neugeboren, nur wenig besorgt.
»Fünfzigtausend Dollar!« schrie er Osnard zu, als er den Wagen aufschloß.
»Wofür?«
»Um diese Busse mit der Hand anzumalen! Dazu werden richtige Künstler angestellt! Dauert zwei Jahre!«
Bis zu diesem Augenblick hatte Pendel das selbst nicht gewußt, falls er es denn jetzt wußte, aber eine innere Stimme riet ihm,
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