Der Schneider
furchtbare Macht und einen riesigen Vorrat überlegenen Wissens zum Ausdruck bringen will.
»In diesem Spiel gibt’s allerhand Möglichkeiten, jemanden auszunehmen. Die kann man nicht alle von heut auf morgen lernen. Habe ich da ein ›Ja‹ gehört, oder sind Sie auf dem Rückzug?«
Erstaunlicherweise, wenn auch nur für ihn selbst, ist Pendel mit seiner Hinhaltetaktik immer noch nicht am Ende. Vielleicht sieht er im Zögern die einzige Freiheit, die ihm geblieben ist. Vielleicht zupft ihn wieder einmal Onkel Benny am Armel. Vielleicht ahnt er auch vage, daß nach der Gefängnisordnung einem Mann, der seine Seele verkauft, eine gewisse Bedenkzeit zusteht.
»Ich bin nicht auf dem Rückzug, Andy. Ich überlege nur«, sagt er, indem er tapfer aufsteht und die Schultern nach hinten drückt. »Sie werden schon hinnehmen müssen, daß Harry Pendel, wenn es um lebenswichtige Entscheidungen geht, alles ganz genau abwägt.«
Es war nach elf, als Pendel, um die Kinder nicht zu wecken, zwanzig Meter unterhalb des Hauses den Motor abstellte und den Wagen ausrollen ließ. Beim Öffnen der Haustür nahm er beide Hände zu Hilfe, eine, um dagegenzudrücken, eine, um den Schlüssel herumzudrehen. Denn wenn man zuerst drückte, gab das Schloß leichter nach, ansonsten krachte es wie eine Pistole. Er ging in die Küche und spülte sich den Mund mit Coca Cola aus, in der Hoffnung, auf diese Weise die Kognakfahne loszuwerden. Bevor er ins Schlafzimmer trat, zog er sich im Flur aus und hängte die Kleider über einen Stuhl. Louisa hatte beide Fenster aufgemacht, so schlief sie am liebsten. Vom Pazifik wehte Meeresluft herein. Als er die Decke zurückschlug, sah er zu seiner Überraschung, daß sie nackt war wie er selbst und ihn hellwach anstarrte.
»Stimmt was nicht?« flüsterte er, einen Streit fürchtend, von dem die Kinder aufwachen würden.
Sie streckte die langen Arme aus und zog ihn heftig an sich heran, und da spürte er, daß ihr Gesicht naß von Tränen war.
»Harry, es tut mir so leid, bitte glaub mir das. Es tut mir wirklich leid.« Sie küßte ihn, ließ aber nicht zu, daß er sie küßte. »Du brauchst mir nicht zu verzeihen, Harry, noch nicht. Du bist ein guter Mensch, ein wunderbarer Ehemann, dein Geschäft geht gut, und mein Vater hatte recht, ich bin ein kaltes, gemeines Weibsstück und würde ein freundliches Wort nicht mal dann erkennen, wenn es mich in den Hintern beißen würde.«
Es ist zu spät, dachte er, als sie ihn nahm. So hätte es mit uns sein müssen, als es noch nicht zu spät war.
6
Harry Pendel liebte seine Frau und seine Kinder mit einer Hingabe, die nur verstehen kann, wer niemals selbst Familie hatte und nie erfahren hat, was es bedeutet, einen anständigen Vater zu achten, eine glückliche Mutter zu lieben oder die beiden als natürliche Belohnung dafür zu akzeptieren, daß man in die Welt gesetzt wurde.
Die Pendels lebten in Bethania, einem Viertel, das oben auf einem Hügel lag; ihr schönes, modernes, zweigeschossiges Haus hatte vorn und hinten einen von Bougainvillea überwucherten Garten und eine herrliche Aussicht aufs Meer und die Altstadt und Punta Paitilla im Hintergrund. Pendel hatte gehört, die Hügel in der Umgebung seien ausgehöhlt, dort befänden sich amerikanische Atombomben und Befehlszentralen für den Kriegsfall, aber Louisa meinte, eben darum können wir uns um so sicherer fühlen, und Pendel, der einen Streit vermeiden wollte, sagte, ja vielleicht.
Die Pendels hatten ein Hausmädchen, das die gefliesten Böden wischte, ein zweites, das die Wäsche besorgte, ein drittes, das die Kinder hütete und die täglichen Einkäufe erledigte, und einen grauhaarigen Schwarzen mit Strohhut und weißem Stoppelbart, der den Garten pflegte, dort alles anpflanzte, was ihm einfiel, verbotenes Zeug rauchte und ständig in der Küche schnorrte. Für dieses kleine Heer von Dienstboten zahlten sie hundertvierzig Dollar die Woche.
Wenn Pendel nachts im Bett lag, machte er sich das heimliche Vergnügen, sich dem unruhigen Schlaf des Gefangenen hinzugeben: die Knie hochgezogen, das Kinn auf der Brust, hielt er sich die Ohren zu, um nicht das Stöhnen der Mitgefangenen hören zu müssen, weckte sich dann und stellte durch behutsames Umherspähen fest, daß er gar nicht im Gefängnis war, sondern hier in Bethania, versorgt von einer treuen Frau, die ihn brauchte und respektierte, umgeben von glücklichen Kindern, die auf der anderen Seite des Flures schliefen, und all das empfand er
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