Der Schneider
jedesmal als Segen, als Mizwa , wie Onkel Benny gesagt hätte: Hannah, seine neunjährige katholische Prinzessin, und Mark, sein achtjähriger rebellischer jüdischer Geiger. Pendel liebte seine Familie mit wahrlich pflichtbewußter Energie und Hingabe, doch er hatte auch Angst um sie und übte sich darin, sein Glück als trügerisch zu betrachten.
Wenn er allein im Dunkeln auf seinem Balkon stand, und das tat er abends nach der Arbeit gern und regelmäßig, wenn er vielleicht eine von Onkel Bennys kleinen Zigarren rauchte, die durch die feuchte Luft herbeiwehenden Abendgerüche der üppigen Pflanzenwelt einsog, die Lichter im regnerischen Nebel schwimmen sah und zwischen launenhaften Wolken die an der Kanalmündung vor Anker liegenden Schiffe beobachtete, schärfte der Überfluß seines Glücks ihm gleichzeitig das Bewußtsein von dessen Zerbrechlichkeit: Du weißt, das kann nicht immer so bleiben, Harry, du weißt, die Welt kann vor deiner Nase explodieren, du hast es selbst von dieser Stelle aus gesehen, und was die Welt einmal gekonnt hat, kann sie jederzeit wieder tun, also sei auf der Hut.
Und wenn er dann auf die allzu friedliche Stadt hinausblickte, dauerte es nicht lange, bis die Lichtblitze und die rotgrünen Leuchtspurgeschosse, das heisere Rattern der Maschinengewehre und das wütende Donnern der Kanonen im Theater seiner Erinnerung ihren eigenen irrsinnigen Tag inszenierten, nicht anders als an jenem Abend im Dezember 1989, als die Hügel flackerten und bebten und riesenhafte Kampfhubschrauber unbehindert von See her anflogen und – wie üblich waren an allem mal wieder die Armen schuld – die Slums von El Chorillo bombardierten, in aller Ruhe die brennenden Bretterhütten zerschossen, sich dann zum Nachladen verzogen und zu erneuten Attacken wiederkehrten. Wahrscheinlich hatten sich die Angreifer das gar nicht so gedacht. Wahrscheinlich waren sie alle gute Väter und Söhne und wollten eigentlich nur Noriegas comandancia ausschalten, bis dann ein paar Geschosse vom Kurs abgerieten und weitere ihnen folgten. Doch zu Kriegszeiten sind gute Absichten für die, denen sie zugedacht sind, nicht so leicht verständlich zu machen, Selbstbeschränkung bleibt unbemerkt, und das Vorhandensein einiger verstreuter feindlicher Heckenschützen in einem armen Wohngebiet rechtfertigt in keinem Fall, daß es vollständig in Brand geschossen wird. Was hilft es, den Leuten zu sagen: »Wir haben so wenig Gewalt wie möglich eingesetzt«, wenn sie in panischem Schrecken barfuß über Blut und Glassplitter um ihr Leben rennen und auf dem Weg ins Ungewisse ihre Koffer und Kinder hinter sich herzerren. Was hilft die Behauptung, rachsüchtige Mitglieder von Noriegas Elitetruppe hätten mit der Schießerei angefangen? Selbst wenn das zuträfe – warum sollte das irgend jemand glauben?
Und bald kamen die Schreie den Hügel hinauf, und Pendel, der auch schon manchen Schrei in seinem Leben gehört und selbst ausgestoßen hatte, wäre nie auf die Idee gekommen, daß ein Menschenschrei das furchtbare Dröhnen von Panzerfahrzeugen und das Geknatter moderner Geschütze übertönen könnte, aber genau so war es, besonders wenn es die Schreie mehrerer Menschen zugleich waren und wenn sie aus den kräftigen Kehlen verängstigter Kinder kamen, und dazu dann noch der bestialische Gestank verbrannten Menschenfleischs.
»Harry, komm rein. Wir brauchen dich, Harry. Harry, komm da weg. Harry, ich verstehe einfach nicht, was du da draußen machst.«
Aber dieses Geschrei kam nun von Louisa, die sich im Besenschrank unter der Treppe verkrochen hatte, den langen gebogenen Rücken gegen das Holz gestemmt, um den Kindern besseren Schutz zu bieten: Mark, knapp zwei Jahre alt, preßte sich an ihren Bauch und machte sie durch die Windel naß – wie die amerikanischen Soldaten verfügte er offenbar über unbegrenzte Munitionsvorräte –, und Hannah kniete in einem Yogibär-Bademantel und Pantoffeln zu Louisas Füßen und betete zu jemandem, den sie unbeirrbar mit Jovey anredete und der sich später als eine Mischung aus Jesus, Jehova und Jupiter entpuppte, eine Art göttlichen Cocktails, zusammengerührt aus Ingredienzien religiöser Folklore, die Hannah in ihren drei Lebensjahren aufgeschnappt hatte.
»Die wissen schon, was sie tun«, wiederholte Louisa immer wieder mit einem schrillen Soldatengebelfer, das unangenehm an ihren Vater erinnerte. »Das machen die nicht zum erstenmal. Das haben die alles genau geplant. Die schießen nie, niemals
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