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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Sternenbanner flatterte im Rauch vom Grillfeuer ihres Vaters, die Band spielte Hope-and-Glory, und die Schwarzen sahen durch den Drahtzaun zu.
    Er sieht das Waisenhaus, an das er sich nie mehr hatte erinnern wollen; sein Onkel Benny, ein vornehmer Herr mit Homburg auf dem Kopf, führt ihn an der Hand in die Freiheit. Er hatte noch nie einen Homburg gesehen und fragte sich, ob Onkel Benny Gott sei. Er sieht das nasse graue Pflaster von Whitechapel unter seinen Füßen schwanken, als er Rollständer mit wehenden Kleidern durch den brüllenden Verkehr zu Onkel Bennys Lagerhaus schiebt. Er sieht sich selbst zwölf Jahre später, noch dasselbe Kind, nur größer: gebannt steht er in eben diesem Lagerhaus inmitten gelbroter Rauchsäulen, und er sieht die Sommerkleider, aufgereiht wie Märtyrer, und die Flammen, die an ihren Füßen lecken.
    Er sieht Onkel Benny, wie er, die Hände vor den Mund gewölbt, schreit: »Lauf, Harry, du blöder Idiot, hast du keine Fantasie?« Alarmglocken schrillen, und Bennys Schritte entfernen sich hastig. Er selbst steckt wie in Treibsand, er kann kein Glied mehr rühren. Er sieht blaue Uniformen auf sich zukommen, sie packen ihn und zerren ihn zum Wagen, und der nette Sergeant hält ihm den leeren Ölkanister vor die Nase und lächelt wie jeder anständige Vater: »Gehört das vielleicht Ihnen, Mr. Hymie, Sir, oder hatten Sie das nur rein zufällig in der Hand?«
    »Ich kann die Beine nicht bewegen«, erklärt Pendel dem netten Sergeant. »Es geht nicht. Ich glaub, ich habe einen Krampf oder so was. Ich müßte eigentlich weglaufen, aber ich kann nicht.«
    »Keine Sorge, mein Sohn. Das kriegen wir schon wieder hin«, sagt der nette Sergeant.
    Er sieht sich klapperdürr und nackt an der kahlen Wand im Polizeigefängnis stehen. Und die endlos lange Nacht, in der die blauen Uniformen ihn abwechselnd zusammenschlagen, wie sie Marta geschlagen haben, jedoch mit mehr Überlegung und mit mehr Bier hinter den Kiemen. Antreiber ist der nette Sergeant, der so ein anständiger Vater ist. Bis das Wasser über ihm zusammenschlägt und er ertrinkt.
    Der Regen hört auf. Als wäre nichts geschehen. Die Autos funkeln, alle sind froh, nach Hause zu kommen. Pendel ist todmüde. Läßt den Motor an, kriecht weiter, langsam, die Unterarme aufs Steuer gelegt. Weicht gefährlichen Trümmern aus. Fängt an zu lächeln, als er Onkel Benny hört.
     
    »Es war ein Ausbruch, Harry«, flüsterte Onkel Benny unter Tränen. »Ein Ausbruch der Natur.«
    Ohne die wöchentlichen Gefängnisbesuche hätte Onkel Benny niemals so viel über Pendels Herkunft verlauten lassen. Aber der Anblick seines Neffen, wie er da in Gefängniskluft mit seinem Namen auf der Tasche so aufmerksam vor ihm sitzt, ist mehr als Bennys gutes schuldbewußtes Herz ertragen kann, ganz gleich, wieviel Käsekuchen und Fitnessbücher er ihm von Tante Ruth mitbringt oder wie oft er Pendel mit erstickter Stimme dankt, daß er trotz allem sein Vertrauen nicht enttäuscht hat. Soll heißen, daß er geschwiegen hat.
    Es war meine Idee , Sergeant … Ich hab’s getan , weil ich es in dem Lagerhaus nicht mehr aushalten konnte , Sergeant … Ich war so wütend auf meinen Onkel Benny , weil er mich immer stundenlang dort hat arbeiten lassen und mir nichts dafür bezahlt hat , Sergeant … Herr Richter , ich habe nichts zu sagen , außer daß ich meine schlimme Tat sehr bereue , und es tut mir leid , daß ich denen , die mich geliebt und die mich aufgezogen haben , besonders meinem Onkel Benny , soviel Kummer gemacht habe …
    Benny ist sehr alt – für ein Kind so uralt wie ein Weidenbaum. Er stammt aus Lwow, und als Pendel zehn Jahre alt ist, kennt er Lwow wie seine eigene Heimatstadt. Bennys Verwandte waren einfache Bauern und Handwerker, kleine Händler und Flickschuster. Viele von ihnen bekamen die Welt außerhalb des Stedtls und des Ghettos zum ersten- und auch zum letztenmal zu sehen, als sie mit Zügen in die Lager transportiert wurden. Nicht so Benny. Der Benny jener Tage ist ein kluger junger Schneider, der von großen Erfolgen träumt, und irgendwie gelingt es ihm, sich aus den Lagern heraus und bis nach Berlin zu reden, wo er für deutsche Soldaten Uniformen näht, auch wenn sein wahrer Ehrgeiz dahin geht, sich von Gigli zum Tenor ausbilden zu lassen und eine Villa in den Hügeln Umbriens zu erwerben.
    »Diese Wehrmacht-Lumpen waren erstklassig, Harry«, sagt der Demokrat Benny, für den, unabhängig von der Qualität, alle Kleider Lumpen sind. »Du

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