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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Spalten in bedrücktem Schweigen studiert hatte, nahm Osnard einen Bleistift aus der Tasche und schrieb schweren Herzens eine 7 in die Mittelspalte, zog einen Kreis darum und von dort eine Linie nach links in die Spalte H wie Harry. Dann schrieb er eine 3 und wies sie, etwas froher gestimmt, der Spalte A wie Andy zu. Er zählte siebentausend Dollar aus dem Safe ab und packte sie in die schäbige Aktentasche. Dann warf er das Insektenspray und einige andere Sachen vom Regal dazu. Geringschätzig. Als ob er diese Dinge verachtete, und das tat er auch wirklich. Er machte die Tasche zu, verschloß den Safe, dann den Tresorraum und schließlich die Eingangstür.
    Als er auf die Straße trat, lächelte der Vollmond auf ihn nieder. Über der Bucht spannte sich ein Himmel voller Sterne, die sich in den am schwarzen Horizont aufgereihten Lichtern der wartenden Schiffe zu spiegeln schienen. Osnard winkte ein freies Pontiac-Taxi heran und nannte eine Adresse. Wenig später holperte er über den Flughafenzubringer und schaute nervös nach einem violetten Neon-Cupido aus, der mit seinem phallischen Pfeil in Richtung der Liebestempel zeigte, für die er Reklame machte. Osnards Züge, von den Scheinwerfern entgegenkommender Autos bloßgelegt, hatten sich verhärtet. Seine kleinen dunklen Augen ließen die Rückspiegel nicht aus dem Blick und funkelten im Licht jedes vorbeirauschenden Wagens. Das Glück begünstigt nur den Vorbereiteten , sagte er sich. Das war der Lieblingsspruch seines Physiklehrers, wenn er ihm, nachdem er ihn grün und blau geschlagen hatte, das Angebot machte, den Streit zu begraben, indem sie die Kleider ablegten.
     
    Irgendwo in der Nähe von Watford im Norden Londons gibt es eine Osnard Hall. Der Weg dorthin führt über eine hektische Umgehungsstraße, dann durch eine heruntergekommene Wohnsiedlung, die nach den uralten Ulmen, die hier einmal standen, Elm Glade genannt ist. Dieses Haus hatte in den letzten fünfzig Jahren mehr erlebt als in den vier Jahrhunderten davor: es war ein Altersheim gewesen, eine Erziehungsanstalt für jugendliche Straftäter, ein Stall für Windhunde und, in jüngster Zeit, verwaltet von Osnards schwermütigem älteren Bruder Lindsay, eine Meditationsstätte für die Anhänger einer fernöstlichen Sekte.
    In den ersten Phasen dieser Veränderungen teilten die Osnards, in Indien und Argentinien lebend, die Miete unter sich auf, stritten sich über Instandhaltungsmaßnahmen und ob ein noch lebendes Kindermädchen eine Pension erhalten sollte. Aber nach und nach fielen sie wie das Haus, das sie hervorgebracht hatte, auseinander, beziehungsweise gaben sie schlicht den Kampf ums Überleben auf. Ein Osnard-Onkel ging mit seinem Anteil nach Kenia und verlor ihn. Ein Osnard-Vetter glaubte, den Australiern etwas vormachen zu können, kaufte eine Straußenfarm und ging damit baden. Ein Osnard-Anwalt plünderte das Familienvermögen, stahl, was er noch nicht durch Fehlinvestitionen verschleudert hatte, und schoß sich dann eine Kugel in den Kopf. Die Osnards, die nicht mit der Titanic untergegangen waren, gingen mit Lloyd unter. Der schwermütige Lindsay, der ungern halbe Sachen machte, legte das safrangelbe Gewand eines Buddhistenmönchs an und erhängte sich an dem einzigen gesunden Kirschbaum, der in dem von einer Mauer umgebenen Garten übriggeblieben war.
    Nur Osnards Eltern, verarmt aus eigener Schuld, blieben aufreizend am Leben: sein Vater auf einem verschuldeten Familiensitz in Spanien, wo er sich mit den Resten seines Vermögens durchschlug und seiner spanischen Verwandtschaft auf der Tasche lag; seine Mutter in Brighton, wo sie mit einem Chihuahua und einer Flasche Gin standesgemäß verwahrloste.
     
    Andere wären angesichts derart kosmopolitischer Lebensperspektiven vielleicht zu neuen Ufern oder wenigstens ins sonnige Spanien aufgebrochen. Aber Andrew hatte bereits in jungen Jahren festgestellt, daß er für England und, noch präziser, England für ihn geschaffen war. Eine entbehrungsreiche Kindheit und die abscheulichen Internate, die ihn für alle Zeiten gezeichnet hatten, hinterließen bei dem Zwanzigjährigen das Gefühl, England mehr Tribut gezahlt zu haben, als irgendein Land von ihm zu fordern berechtigt war, und daß er von jetzt an nicht mehr zahlen, sondern einstreichen sollte.
    Die Frage war: Wie? Er hatte keinen Beruf, keinen Schulabschluß, keine erwiesenen Fähigkeiten außerhalb des Golfplatzes und des Schlafzimmers. Was er von Grund auf kannte, war die

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