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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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die hatte ich nie. Sondern über mich. Und was noch beunruhigender war, sie, die Tochter eines unsäglich aufgeblasenen Oberhausmitglieds und die ehemalige Partnerin des makellosen Edgar, mußte erkennen, daß ihr das Anrüchige ausgesprochene Lustgefühle verschaffte.

12
    Osnard parkte sein Diplomatenauto vor dem Einkaufszentrum am Fuß des hohen Gebäudes, grüßte die diensthabenden Sicherheitsbeamten und fuhr in die vierte Etage. Im fahlen Licht von Neonröhren boxten ewig der Löwe und das Einhorn. Er drückte eine Kombination, betrat den Empfangsraum der Botschaft, schloß eine Panzerglastür auf, erklomm eine Treppe, ging in einen Flur, schloß eine Gittertür auf und betrat sein Reich. Eine letzte Tür blieb noch verschlossen, sie war aus Stahl. Er klaubte den Steckschlüssel aus dem Bund in seiner Tasche, schob ihn verkehrt herum hinein, sagte Scheiße, zog ihn heraus und schob ihn richtig hinein. Wenn er allein war, bewegte er sich ein wenig anders, als wenn er beobachtet wurde. Etwas hastiger, ungestümer. Er reckte das Kinn, seine Schultern hoben sich, seine Augen sahen unter gesenkten Brauen hervor, er schien sich auf irgendeinen unsichtbaren Feind zu stützen.
    Der Tresorraum bestand aus den letzten zwei Metern des Flurs, die zu einer Art Speisekammer umgebaut waren. Rechts von Osnard befanden sich Schubfächer. Zu seiner Linken, neben diversen Gegenständen wie Insektenspray und Klopapier, ein grüner Wandsafe. Vor ihm stand auf einem Stapel elektronischer Geräte ein überdimensionales rotes Telefon. Im Jargon wurde es als seine digitale Verbindung zu Gott bezeichnet. Auf dem Sockel der Hinweis: »Gespräche auf diesem Apparat kosten pro Minute £ 50,00.« Darunter hatte Osnard »Viel Spaß« geschrieben. Und in diesem Geist nahm er jetzt den Hörer ab, ignorierte die Automatenstimme, die ihm befahl, bestimmte Knöpfe zu drücken und gewisse Vorschriften einzuhalten, wählte die Nummer seines Londoner Buchmachers und setzte jeweils 500 Pfund auf zwei Windhunde, deren Namen und Renntermine er offenbar genauso gut kannte wie den Buchmacher.
    »Nein, Sie Volltrottel, auf Sieg«, sagte er. Wann hatte Osnard jemals bei einem Hund auf Platz gesetzt?
    Danach widmete er sich den Unbilden seines Handwerks. Er zog einen gewöhnlichen Aktenordner aus einem mit STRENG GEHEIM BUCHAN beschrifteten Schubfach, trug ihn in sein Büro, machte Licht, setzte sich an den Schreibtisch, rülpste und studierte, den Kopf in die Hände gestützt, noch einmal die vier Seiten mit Instruktionen, die er heute nachmittag von seinem Gebietsleiter Luxmore erhalten und unter beträchtlichem Aufwand an Geduld selbst dechiffriert hatte. Mit Luxmores schottischem Akzent, den er leidlich nachzumachen verstand, las er den Text laut vor:
    »Die folgenden Anweisungen werden Sie auswendig lernen« – er saugte an den Zähnen – »Diese Mitteilung ist nicht, ich wiederhole: nicht, für die Akten bestimmt und binnen 72 Stunden nach Erhalt zu vernichten, junger Mr. Osnard … Sie werden BUCHAN unverzüglich von folgendem in Kenntnis setzen« – er saugte an den Zähnen – »Sie dürfen BUCHAN die folgenden Schritte nur unternehmen lassen … Sie werden die folgende dringende Warnung aussprechen … Aber sicher!«
    Mit einem wütenden Grunzen faltete er das Telegramm wieder zusammen, dann suchte er aus einer Schreibtischschublade einen gewöhnlichen weißen Umschlag heraus, steckte das Telegramm hinein und schob den Umschlag in die rechte Gesäßtasche der Pendel-&-Braithwaite-Hose, die er London als für seinen Einsatz unerläßlich auf die Spesenrechnung gesetzt hatte. Dann ging er in den Tresorraum, nahm eine abgewetzte lederne Aktentasche, die vorsätzlich das genaue Gegenteil von amtlich war, stellte sie aufs Regal und öffnete mit einem anderen Schlüssel an seinem Bund den Wandsafe, in dem ein gewichtiges Hauptbuch und dicke Bündel von 50-Dollar-Scheinen lagen – Hunderter waren seinem Erlaß an London gemäß zu auffällig, damit konnte man sich nur verdächtig machen.
    Im Licht der Deckenlampe schlug er die aktuelle Seite des Hauptbuchs auf. Sie war in drei Spalten unterteilt, in die handschriftlich Zahlen eingetragen waren. Die linke war mit H wie Harry überschrieben, die rechte mit A wie Andy. Die mittlere Spalte mit den größten Beträgen trug die Überschrift »Einnahmen«. Sauber gezeichnete Kreise und Linien von der Art, wie sie von Sexologen benutzt werden, verwiesen die Gelder nach links oder rechts. Nachdem er die drei

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