Der Schneider
englische Fäulnis, und was er brauchte, war eine vermodernde englische Institution, die ihm zurückgeben würde, was andere vermodernde Institutionen ihm genommen hatten. Sein erster Gedanke war die Fleet Street. Er konnte halbwegs lesen und schreiben und wurde von keinerlei Prinzipien behindert. Er hatte alte Rechnungen zu begleichen. Oberflächlich betrachtet, war er der ideale Mann für die neureiche Mediengesellschaft. Aber nach zwei verheißungsvollen Jahren als Jungreporter beim Loughborough Evening Messenger endete seine Karriere mit einem Knall, als herauskam, daß ein verquaster Artikel mit der Überschrift »Die Sexspiele unserer Ratsherren« auf Bettgeflüster der Frau des Chefredakteurs beruhte.
Dann entdeckte er seine Tierliebe, und eine Zeitlang glaubte er, seinen wahren Beruf gefunden zu haben. In eleganten Räumlichkeiten unweit von Theatern und Restaurants wurde mit leidenschaftlicher Hingabe über die Bedürfnisse der Tiere Großbritanniens gepredigt. Keine Galapremiere, kein vornehmer Empfang, keine Auslandsreise zur Beobachtung der Tiere anderer Nationen – nichts war den hochbezahlten Tierschutzfunktionären zu beschwerlich. Und beinahe hätte das alles auch Früchte getragen. Das Soforthilfeprogramm (Organisator: A. Osnard) und das Landheim für Altgediente Windhunde (Schatzmeister: A. Osnard) hatten enormen Zulauf, bis schließlich zwei seiner Vorgesetzten sich wegen schweren Betrugs vor einem Untersuchungsausschuß verantworten mußten.
Danach lief er eine Woche lang wie betäubt herum und überlegte, ob er es mit der Anglikanischen Kirche versuchen sollte, die zungenfertigen, sexuell aktiven Agnostikern traditionell rasche Beförderung anbot. Seine fromme Anwandlung verflog, als er nach einigen Nachforschungen herausfand, daß sich die Kirche durch katastrophale Fehlinvestitionen in unerfreuliche christliche Armut begeben hatte. Verzweifelt stürzte er sich in eine Reihe schlecht geplanter Abenteuer auf der Überholspur des Lebens. Jedes dieser Abenteuer war von kurzer Dauer, jedes endete mit einem Fehlschlag. Mehr denn je sehnte er sich nach einem richtigen Beruf.
»Wie wär’s mit der BBC?« fragte er den Sekretär der Stellenvermittlung bei der Universität, als er dort zum fünften- oder fünfzehntenmal auftauchte.
Der Sekretär, grauhaarig und vor seiner Zeit gealtert, zuckte zusammen.
»Zu spät«, sagte er.
Osnard schlug die Nationalstiftung vor.
»Mögen Sie alte Gebäude?« fragte der Sekretär, als fürchtete er, Osnard könnte sie in die Luft sprengen.
»Ungeheuer. Bin süchtig danach.«
»Tatsächlich.«
Mit zitternden Fingerspitzen hob der Sekretär einen Aktenordner und spähte hinein.
»Vielleicht sind Sie genau der Richtige. Sie haben einen schlechten Ruf. Sie haben einen gewissen Charme. Sie sind zweisprachig, falls die was mit Spanisch anfangen können. Wir können’s ja mal versuchen, möchte ich meinen.«
»Bei der Nationalstiftung?«
»Nein, nein. Beim Service. Hier. Gehen Sie damit in eine dunkle Ecke und füllen Sie das mit unsichtbarer Tinte aus.«
Endlich hatte Osnard seinen Gral gefunden. Seine wahre Kirche von England, seine vermodernde Burg mit ansehnlichem Etat. Hier wurden die heimlichsten Gebete der Nation aufbewahrt wie in einem Museum. Hier gab es Skeptiker, Träumer, Zeloten und verrückte Äbte. Und das Geld, sie real werden zu lassen.
Nicht daß seine Rekrutierung eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Immerhin war dies der neue verschlankte Service, frei von den Fesseln der Vergangenheit, klassenlos in der hehren Tradition der Tories, besetzt mit demokratisch handverlesenen Männern und Frauen aus allen Schichten des weißen, in Privatschulen ausgebildeten Mittelstandes. Und Osnard wurde unter die Lupe genommen wie alle anderen:
»Diese betrübliche Sache mit Ihrem Bruder Lindsay – daß er sich das Leben genommen hat; wie glauben Sie, hat Sie das berührt?« fragte ihn ein hohläugiger Schreibtischspion mit schmerzverzerrter Miene über den polierten Tisch hinweg.
Osnard hatte Lindsay immer verachtet. Er zog ein tapferes Gesicht.
»Es hat mir sehr weh getan«, sagte er.
»In welcher Weise?« Wieder dieses schmerzliche Gesicht.
»Da fragt man sich, wo es noch Werte gibt. Was einem noch am Herzen liegt. Wozu man überhaupt in die Welt gesetzt worden ist.«
»Und die Antwort wäre – angenommen, Sie würden eingestellt – unser Service?«
»Zweifellos.«
»Und Sie haben nicht das Gefühl – nachdem Sie so viel in der
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