Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Wand. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Kapitel 46
Berlin, 22. Oktober, 02:13 Uhr
Die Angst verengte Jan die Kehle so sehr, dass er den Druck des Drahtes kaum wahrnahm. Sein Herz jagte. Erinnerungen schossen ihm wild durch den Kopf. Er dachte an Theo, wie angestrengt er immer ausgesehen hatte, wenn er die kleinen Augenbrauen zusammengezogen und am orangenen Knopf des Sicherheitsgurtes genestelt hatte. Und wie unwillig er reagiert hatte, wenn Jan ihm verbot, an diesem Knopf herumzufingern. Er spürte die Wucht des Unfalls, sah den Rücken seiner Mutter, die Hand am Koffergriff, durch den schneebedeckten Vorgarten verschwinden, dann den Rücken seines Vaters, der sich sein ganzes Leben lang nicht umgedreht hatte, und sich selbst, auf einem Stuhl festgebunden. Er wünschte sich einen orangenen Knopf, den er jetzt drücken konnte, einen Schleudersitz aus diesem Irrsinn.
Aber da war kein Knopf.
Sie schwankte am Stuhl vorbei und trat hinter ihn. Nur der verbrannte Geruch ihrer Kleidung blieb in der Luft hängen, wie eine giftige Wolke.
Er spürte, dass Lauras Hände die ihres Vaters am Griff der Garotte ablösten. Die Hitze wurde immer stärker. War das die Angst, oder war es wirklich so heiß?
Er schloss die Augen, wollte nicht glauben, dass sie es tun würde. Er hoffte immer noch und kam sich dabei so unglaublich naiv vor. Er hätte sich aufgebäumt, aber die Folie ließ es nicht zu.
Er hätte etwas gesagt, wenn es etwas zu sagen gegeben hätte.
Aber es gab nichts, was all dem hier gerecht geworden wäre.
Es gab auch nichts, was es besser gemacht hätte.
Es war, wie es war.
Vorbei.
Kapitel 47
Berlin, 22. Oktober, 02:16 Uhr
Der Draht straffte sich ruckartig und schnitt in seinen Hals. Er riss den Mund auf, die Luft blieb ihm weg – und im nächsten Moment sprang die Garotte federnd von seinem Hals, fiel auf seinen Schoß und von dort klackernd zu Boden.
Hinter sich hörte er einen dumpfen Aufprall, dann ein Stöhnen. Die Stuhllehne bebte.
Er riss die Augen auf.
Durch die offene Tür drangen dünne Rauchschwaden, die nach ihm griffen, und unter der geschlossenen Tür dahinter zeichnete sich ein orange flackernder Streifen ab.
O Gott! War das etwa Feuer?
Hinter ihm war schweres Atmen zu hören. »Laura?«, krächzte er.
Als Antwort bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf, und es wurde finster.
Finster und still.
Erst nach einer Weile drang aus weiter Ferne etwas wie das Knistern eines Kaminfeuers an sein Ohr.
Schwerfällig öffnete er die Lider. Er saß immer noch auf dem Stuhl, war immer noch mit Folie gefesselt. Er hob den Blick und sah in den Flur. Die Tür zum Foyer war halb geöffnet. Im Marmor spiegelten sich orangerote Flammen. Die Luft waberte vor Hitze, und der Qualm drang beißend in das Innere der Galerie.
Das Haus brannte lichterloh!
Instinktiv wollte er aufspringen, doch die Folien hielten ihn auf dem Stuhl.
Sein Blick flog durch den Raum.
»Hallo?«, rief er laut.
Keine Antwort.
Wo waren Laura und ihr Vater?
Vor seinen Füßen, in greifbarer Nähe, lagen die Garotte und das Schweizer Taschenmesser. Er riss mit Armen und Beinen an seinen Fesseln. Das Adrenalin verlieh ihm neue Kräfte, trotzdem gab die Folie nicht nach.
»Hilfe«, brüllte er. »HILFE!«
Sofort bekam er einen Hustenanfall. Seine Augen tränten, und er rang nach Luft. Wie lange dauerte es, bis man an einer Rauchvergiftung starb? Durch die Tür drang immer dichterer Rauch, der bizarre Formen anzunehmen schien. In seiner Mitte formte er sich zu etwas, das an die Umrisse eines Menschen erinnerte. Jan kniff die Augen zusammen.
Eine Gestalt waberte durch den Rauch, nackt und kalkweiß, als wäre eine der Frauen aus der Wand herausgetreten, kam sie geradewegs auf ihn zu. Ihm blieb das Herz stehen. Das musste eine Halluzination sein.
Die gespenstische Erscheinung kam immer näher, sie ging gebeugt, schwankte und wurde plötzlich von einem Hustenkrampf geschüttelt.
Die Frau war real!
Er wollte um Hilfe rufen, brachte aber nur ein Keuchen heraus. »Schnell! Bitte …«
Die Frau sank vor ihm auf die Knie. Mit zitternden Händen nahm sie das Schweizer Messer, stach in die Folie unter seinem Arm und riss daran. Widerstrebend gab das Plastik nach, und sein rechter Arm war frei. »Danke«, brachte Jan mühsam hervor.
Die Frau nickte und hustete, dabei glitt ihr das Messer aus der Hand. Klappernd fiel es zu Boden. Jan zerrte panisch mit den Fingern an der straff gewickelten Folie, die seinen linken Arm fixierte.
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