Der Schock: Psychothriller (German Edition)
in sein Gesicht. Malen konnte er schon immer gut, nur spiegelverkehrt war es etwas schwieriger, so dass ihm einer der Striche ausrutschte. Aber das war der einzige Fehler. Nach zwanzig Minuten ließ er den Stift sinken, den er mehrmals hatte nachspitzen müssen, und starrte in den Spiegel.
Vor ihm stand ein unbekannter Mann mit dem Gesicht eines – ja was denn eigentlich? Eines Dämons? Eines Voodoo-Priesters? Es kam ihm fremd vor, aber dennoch gefiel es ihm plötzlich ganz und gar. Es war keine Notlösung, es war besser. Er war besser. Er war jemand anders. Das auffällige Muster legte sich über seine Gesichtszüge wie eine optische Täuschung.
Eine seltsame Erregung packte ihn. Zunächst wusste er nicht, was es war. Und er verschwendete auch keinen weiteren Gedanken daran. Die Party hatte Priorität. Jenny hatte Priorität. Er wollte schon los, da fiel ihm ein, dass die Bemalung verlaufen könnte. Rasch griff er nach einer Dose Haarspray, schloss die Augen, hielt den Atem an und sprühte sich den feinen Nebel ins Gesicht, so dass die Farbe fixiert wurde, ganz so, wie er es immer mit seinen Bleistiftskizzen gemacht hatte. Zuletzt nahm er aus seinem Kleiderschrank eine weiße Hose. Was fehlte, war ein weißes Hemd; die besaß nur sein Vater. Normalerweise hätte er sich niemals getraut, in den Kleiderschrank seines Vaters zu greifen. Doch heute war alles anders.
Er warf sich das weiße Hemd über, strich es glatt, dann zog er los.
In der Bahn beäugten ihn die Leute ängstlich, als wäre er irre und würde beißen. Ein gutes Gefühl.
Die Villa von Buck Stelzers Eltern war ein griechischer Palast, mit Säulen wie ein Tempel. Bucks Eltern waren verreist, und daher hatte Sohnemann die Chance genutzt und schmiss genau die Sorte Party, die Eltern um den Verstand brachte.
Überall im stockdunklen Garten brannten Fackeln, kleine Inseln aus Feuer. Die hohen Säulen der Villa lebten und flackerten im Schein von orangenen Kugeln. Wie immer hatte er Schwierigkeiten, scharf zu sehen, wenn die Dinge weiter entfernt waren. Als er näher kam, erkannte er, dass die Kugeln Kürbisse waren, von innen beleuchtete Köpfe mit abgeschlagener Schädeldecke und zahn- und freudlosem Grinsen. Eine Gänsehaut kroch an ihm empor, und er stellte sich vor, dass Jenny im Angesicht der Köpfe ja vielleicht auch diese Erregung überkommen hatte. Wie gerne hätte er dann ihre Brustwarzen gesehen.
Die Party tobte. Hundert Gespenster, und er war eins davon. Niemand erkannte ihn, niemand lachte ihn aus. Es roch nach Schweiß in billigen Kostümen, nach Zigaretten und Alkohol. Auf dem Parkett knirschten Glasscherben. Buck war ein Idiot. Was glaubte er, würden seine Eltern sagen? Was ging nur in seinem Kopf vor?
Plötzlich sah er Jenny. Mitten auf der Tanzfläche, da wo er sie hingewünscht hätte, wenn sie nicht schon da gewesen wäre. Nein, um genau zu sein, er hätte sie ganz woanders hingewünscht, aber das war aussichtslos.
Also blieb er stehen und verlor die Zeit.
Fünf Minuten, fünfzehn Minuten, fünfunddreißig Minuten.
Er hätte ewig da stehen und ihr beim Tanzen zusehen können. Irgendetwas hatte sie mit ihrer Haut gemacht. Sie schimmerte, war weiß wie Alabaster, bleich und verführerisch. Ihre blonden Haare waren zu einem Turm aufgesteckt und sahen aus wie weiß gepudert. Zwischen ihren rosa Lippen lief ein Blutstreifen an ihrem Kinn vorbei, über ihren Hals, als hätte sie gerade jemanden gebissen. Noch nie hatte er so viel betörende Schönheit in Vollendung gesehen. Tief in ihm schlug eine Saite an, zitterte und brachte alles in ihm zum Klingen. Urplötzlich sah sie ihn an und streckte ihren Arm nach ihm aus, wedelte, als wollte sie nach seiner Hand greifen. Ja, nach seiner Hand! Sie winkte ihm ! Er bemühte sich, anders zu gucken, als er sich fühlte. Sicherer, selbstverständlicher. Unwillkürlich drückte er die Brust zwischen den Schultern hervor und lächelte stark.
Er war jetzt jemand. Jemand anders.
Wieder winkte Jenny. »Komm her«, zwitscherte ihre helle klare Stimme gegen die plärrende Musik. Ihre rosa Zunge blitzte zwischen ihren Lippen auf, und ihm wurde ganz heiß. Was das anging, war er wohl keinesfalls jemand anders. Oder dieser Jemand war Jenny ebenso erlegen wie er selbst. Langsam trat er auf die Tanzfläche.
Er lächelte.
Er war stark und sicher.
Was diese Maske alles machte!
Er übertraf sich selbst und nahm ihre Hand. Ihre Fingerspitzen waren kühl und etwas feucht. Geschickter, als er es von sich
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