Der Schock: Psychothriller (German Edition)
versuchte er, Katy zu erreichen. Erfolglos.
Erst eine weitere Viertelstunde später tauchte sie wieder auf, mit einer weißen Hochglanztüte mit hellblauem Douglas-Schriftzug. Jan schloss kurz die Augen und zählte bis drei, um seine Verärgerung im Zaum zu halten.
»Und?«, fragte Katy spitz. Sie hatte wieder auf dem Fahrersitz Platz genommen. »Willst du mir vielleicht jetzt erzählen, was los war? Gibt’s was Neues?«
Jan verzog den Mund. »Ich erzähle es dir auf der Fahrt.«
»Auf welcher Fahrt?«
»Wir müssen nach Schleswig-Holstein.«
»Wohin?«
»Nach Schleswig-Holstein, an die Ostsee, in die Nähe von Flensburg.«
»Das sind doch mindestens 500 Kilometer!«
»300«, korrigierte Jan. »Wenn du nicht willst, du kannst gerne aussteigen.«
»Und mir das Vergnügen deiner Gesellschaft entgehen lassen? Vergiss es. Außerdem ist das Gregs Wagen. Er hat ihn mir geliehen. Nicht dir. Wir fahren also entweder zusammen oder gar nicht.«
Jan lächelte, auch wenn ihm nicht danach war.
»Ich nehme an, du willst zu dem Internat?«, fragte Katy.
»Das macht Geschwisterliebe aus, oder?«
»Was?«
»Dass man manchmal nicht viel sagen muss.«
Katy sah ihn lange an, mit einem Blick, den er nicht einordnen konnte.
»Warum hast du Schminke gekauft?«, fragte Jan.
»Für dich.«
»Für mich?«, fragte Jan verblüfft.
Katy seufzte. »Das mit der Geschwisterliebe scheint wohl manchmal etwas einseitig zu funktionieren.«
»Versteh ich nicht.«
»Guck mal in den Spiegel, Jan. Was glaubst du, worauf werden die zuerst schauen, wenn wir zufällig in eine Polizeikontrolle geraten?«
Sie suchten das nächstbeste größere Café und gingen in die Herrentoilette. Als sie gemeinsam in der WC-Kabine verschwanden, streifte sie der befremdete und zugleich neidische Blick eines Mittfünfzigers. Jan setzte sich auf den Toilettendeckel, legte den Kopf in den Nacken. Katy band ihm die Haare aus der Stirn und begann mit Camouflage und Fixierpuder zu hantieren. Es war ein irritierendes Gefühl auf der Haut, und es fiel Jan schwer, still zu sitzen, zumal ihm der Geruch von Ammoniak und WC-Stein in die Nase stieg.
Als Jan vor den Spiegel am Waschbecken trat, sah er sich einem Fremden gegenüber. Das Feuermal war verschwunden, und die Symmetrie seiner Gesichtszüge trat in den Vordergrund, ebenso wie seine Augen. Sein Feuermal war ihm manchmal erschienen wie ein lästiger Magnet. Bei Gesprächen zuckten die Pupillen seines Gegenübers oft abwärts. Doch jetzt gab es nichts mehr, wohin der Blick zucken konnte. Der ebenmäßige Teint gab ihm ein seltsames glattes Äußeres. Zum ersten Mal im Leben war er das Mal in seinem Gesicht los – und kam sich fremd vor.
Außerdem fühlte sich seine Haut steif und klebrig an. Am liebsten hätte er sich gekratzt. Doch sich ins Gesicht zu fassen war tabu. Er musste an die schwarzen Streifen des Albinos denken und fragte sich, ob die sich genauso anfühlten – sofern es keine Tattoos waren.
»Was passiert, wenn ich schwitze?«, fragte er.
»Die Frau in der Parfümerie meinte, das Make-up in Verbindung mit dem Fixierpuder wäre sogar wasserfest. Aber duschen gehen würde ich damit nicht.«
Jan nickte. »Danke.«
Wenige Minuten später fuhren sie Richtung Norden und dann auf die A10 in westlicher Richtung. Jan erzählte von seiner Begegnung mit Ava Bjely.
Nach knapp drei Stunden wechselten sie kurz hinter Kiel auf eine Bundesstraße. Die Landschaft war flach, und die Sonne ließ das Herbstlaub leuchten. In der Eckernförder Bucht lag die Ostsee still unter leicht bewölktem Himmel. Postkartenwetter. Hinter Eckernförde hielten sie sich links. Nach einem kurzen Waldstück sahen sie ein grünes Schild mit goldenem Emblem und der Aufschrift Nordholm , das nach links wies.
Die schmale Privatstraße führte Richtung Ostsee. Links und rechts säumten Bäume die Straße, zwischendurch blitzte ein Sportplatz auf, Nebengebäude, Tennisplätze. Der Cherokee wirbelte goldenes Laub auf.
Als auf der rechten Seite das Schloss mit seiner früh-klassizistischen Fassade auftauchte, blies Katy die Backen auf. »Ganz schön nobel hier.«
»Eines der bekanntesten Internate in Deutschland«, sagte Jan. »Und eins der teuersten. Ich hab ein bisschen im Internet recherchiert.«
»Was kostet es, wenn man seine Sprösslinge hier unterbringen möchte?«
»Zwischen 40 000 und 45 000 pro Kind und Jahr«, meinte Jan.
Katy hob die Brauen. »Da haben Lauras Eltern ja ganz schön tief in die Tasche
Weitere Kostenlose Bücher