Der Schock: Psychothriller (German Edition)
des Satzes ging unter, doch der Name traf Laura wie ein Stromschlag. Floss. Jan war hier! Sie rückte näher an das Fallrohr, so nah, wie es das Seil erlaubte.
Das Schloss des Tors summte, und Jan betrat das Grundstück. An der offenstehenden Haustür der Villa wartete Ava Bjely in ihrem Rollstuhl, kerzengerade wie die Säulen links und rechts von ihr. Sie trug Schwarz, wie bei seinem letzten Besuch, die gleichen Ringe ums Handgelenk und die gleiche straffe Frisur. Dieses Haus war wie eine Konserve. Hinter ihr stand die Haushaltshilfe. Fanny, soweit Jan sich erinnerte.
»Das muss ich Ihnen lassen, junger Mann. Sie wissen, welche Knöpfe Sie drücken müssen«, meinte Ava Bjely.
»Sie lassen mir ja keine Wahl«, erwiderte Jan.
»Es gibt Leute, die behaupten, das könnte ich besonders gut. Folgen Sie mir.«
Fanny machte Anstalten, Ava Bjely in den Wohnraum zu rollen, doch Ava Bjely winkte ab und machte sich selbst auf den Weg. »Geh nur. Du kannst dich um die Etage meines Mannes kümmern. Ich brauche dich hier nicht.«
Fanny nickte und verschwand wortlos.
»Gehen wir dort hinüber«, sagte Ava Bjely zu Jan, der ihr gefolgt war. Sie deutete ans andere Ende des Zimmers, wo eine graue Übereck-Couchgarnitur stand. Jan ließ sich auf dem Sofa nieder. Alcantara, dachte er. Abwaschbar und weich wie Wildleder.
Ava Bjely rollte an den niedrigen Couchtisch heran. »Was für Tote?«, fragte sie übergangslos.
»Hab ich Sie erschreckt?«
Ava Bjely schnaubte verächtlich. »Sehe ich so aus, als könnte man mich erschrecken? Also: Was für Tote?«
»Ich frage mich, warum Sie das interessiert.«
»Junger Mann, wenn Sie weiterhin gedenken, jede Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, dann sollten Sie jetzt schleunigst mein Haus verlassen.«
Laura wagte kaum zu atmen. Warum hörte sie nichts? Wo war Jan? Und wo ihre Mutter? Vielleicht sprachen sie ja auch nur leise. Oder standen noch an der Tür. Sie war wie elektrisiert. Das Seil war gespannt wie eine Bogensehne, während sie so nah wie möglich am Abflussrohr stand. Sie überlegte zu schreien, in der Hoffnung, dass Jan sie früher oder später hören musste. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass auch Buck die Schreie hören könnte, sofern er in der Nähe war. Und wenn Buck sie vor Jan hörte, dann würde er sie zum Schweigen bringen.
Sie presste die Lippen aufeinander. Nein. Sie musste warten, bis sie Jans Stimme hörte. Erst dann hatte sie eine Chance, dass ihre Rufe auch wirklich zu ihm durchdrangen. Vorher durfte sie nicht schreien.
Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts als das dumpfe Pochen ihres Pulsschlags in den Ohren.
»Wie wäre es«, schlug Jan vor, »wenn wir uns gegenseitig ein paar Fragen beantworten? Erst Sie, dann ich.«
Ava Bjely musterte ihn abschätzig. Die Situation gefiel ihr ganz und gar nicht, aber Jan spürte, dass sie neugierig, vielleicht sogar beunruhigt war.
»Dann fragen Sie mal.«
»Warum haben Sie Laura damals aufs Internat geschickt?«
Ava Bjely fuhr sich mit der Zunge über ihre Schneidezähne, als gäbe es dort unliebsame Speisereste beiseitezuwischen. »Was glauben Sie denn? Warum schicken Eltern ihre Kinder wohl aufs Internat? Weil sie schwierig sind. Laura war schwierig. Das war sie schon immer. Aber als sie in die Pubertät kam, hatte ich sie nicht mehr im Griff. Sie schwänzte den Unterricht, streunte herum, und ich war sicher, dass sie Drogen ausprobierte. Sie geriet auf die schiefe Bahn, wie man so schön sagt.«
»Deshalb haben Sie sie nach Nordholm geschickt? Wegen ein paar Mal schwänzen und Drogen ausprobieren?«
»Sie tun ja geradezu so, als wäre Nordholm ein Gefängnis. Waren Sie mal dort?«
»Ich habe das Gelände auf Fotos gesehen, im Internet. Aber darum geht es nicht. Selbst wenn es das schönste Internat der Welt wäre. Laura wollte dort nicht hin.«
»Manchmal muss man Kinder zu ihrem Glück zwingen.«
»Glück? Wissen Sie, was Laura dazu gesagt hat? ›Meine Mutter hat mir damit das Leben versaut.‹«
»Wer hat Ihnen das erzählt? Laura?«
»Ein Freund.«
»Glauben Sie nicht alles, was Sie hören. Die meisten Menschen versauen sich das Leben immer noch selbst. ›Jeder ist sein eigener Teufel, und wir machen uns dieses Leben zur Hölle.‹ Oscar Wilde. Aber es ist immer hübsch einfach, den anderen die Verantwortung dafür zu geben. Die Entscheidung, Laura aufs Internat zu schicken, war unumgänglich.«
»Und warum so plötzlich?«, fragte Jan.
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja,
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