Der Schock: Psychothriller (German Edition)
meine Tochter aufpassen«, hörte sie ihre Mutter, laut und schrill. »Ich brauche keinen scheiß Moral-Apostel, der mir sagt, was …«
»Jaaaaaan!«, schrie sie erneut aus Leibeskräften.
»Ihre Tochter ist entführt worden, und Sie interessiert das einen Scheißdreck?«
»JAAAAN! HILFE! ICH BIN HIER!«
»Sie ist nicht entführt worden. Sie wissen nicht das Geringste über meine Tochter.«
»Eins weiß ich! Jemand wie Sie hätte nie ein Kind bekommen dürfen. Was ist passiert? War es zu spät für eine Abtreibung?«
»Raus!«
»JAAAN! Hilfe!«
»Verschwinden Sie. Auf der Stelle!«
Nein!, dachte Laura. Bitte nicht. Geh jetzt nicht!
»JAAAN!« Sie riss am Seil. Hangelte nach der Wasserflasche, warf sie mit aller Kraft gegen das Rohr. »JAAAAANNN!« Ihr Herz raste. Ihre Stimmbänder brannten. Aber sie hatte keine Wahl, sie hatte nur diese eine Chance. »JAAAAN!« Ihre Stimme überschlug sich. Verhallte.
Sie lauschte in die Stille.
Hoffte auf eine Antwort.
Aber da war nichts. Kein Laut. Nur ihr eigener Pulsschlag.
»JAAAAAAN.«
Dann kam die Panik, dass er einfach so gehen könnte, ohne sie zu hören. Sie schrie weiter, bis ihre Stimmbänder weh taten. Dann sank sie zu Boden und begann, haltlos zu weinen.
»Jan«, schluchzte sie, zog die Knie an und vergrub das Gesicht in den Händen.
Plötzlich hörte sie das Türschloss. Voller Hoffnung hob sie den Blick.
Die Tür schwang auf.
Im Türrahmen stand Buck.
Er zog sie am Seil empor. Sie hatte keine Kraft, sich ihm zu widersetzen. Mit bis an die Schmerzgrenze gestreckten Armen stand sie da, wehrlos und verlassen.
»Was soll das? Warum schreist du so?«, fragte Buck.
Sie verbot sich, weiter zu schluchzen, doch es gelang ihr kaum. Sie hätte ihn gerne angebrüllt und beschimpft, doch ihre Kraft reichte nicht aus.
»Hatte ich dich nicht gewarnt?«
Sie erwiderte nichts, spürte nur bodenlose Verzweiflung.
Kapitel 31
Berlin, 21. Oktober, 10:19 Uhr
Jan stieg in den Cherokee und schlug die Beifahrertür zu. »Fahr los, bitte. Schnell!«
Katy warf ihm einen besorgten Blick zu und trat das Gaspedal. Der Dieselmotor brüllte, und der Wagen machte einen Satz nach vorne. »Was ist los? Hat sie die Polizei gerufen?«
»Nein. Hat sie nicht.«
»Warum dann die Eile?«
»Ich will einfach nur weg von hier, okay?«
Katy atmete lautstark aus, schwieg aber. Jan starrte auf die vorbeiwischenden Mauern, Zäune und Häuser. Ab und an ertönte das monotone Klicken des Blinkers. Jan registrierte zwar, dass Katy nicht zu Greg zurückfuhr, sagte jedoch nichts. Ava Bjely beherrschte immer noch seine Gedanken, und er fragte sich, was alles passieren musste, damit jemand so werden konnte.
»Tu mir bitte einen Gefallen, ja«, sagte er schließlich. »Meld dich bei Anna und Nele. Besuch sie.«
»Jan, ich hab dir doch gestern gesagt –«
»Erspar’s mir. Mach’s einfach, ja?«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich ihr Kiefer verspannte. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, und Tränen traten ihr in die Augen. Es war ihm herzlich egal.
Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, wie Laura diese Mutter überlebt hatte. Die Psychiatrien waren voll von Patienten, die unter ihren Eltern gelitten hatten. Manche weniger schlimm als Laura, andere noch schlimmer.
Irgendwie war Laura da rausgekommen, und das anscheinend sogar mit einer halbwegs gesunden Psyche. Andere wären daran zugrunde gegangen. Noch vor kurzem hatte er einen Artikel in Psychologie Heute dazu gelesen. Immun gegen das Schicksal? , hatte es da geheißen. Es ging um Resilienz, so etwas wie eine innere Stärke, die manche Menschen hatten und die sie selbst die schlimmsten Situationen überstehen ließ. Offenbar gehörte Laura zu dieser Gruppe. Er nahm sich vor, den Artikel noch einmal zu lesen. Aber vor allem musste er mehr über Lauras Vergangenheit und ihre Zeit im Internat herausfinden.
Der Cherokee ruckte, und Jan schrak aus seinen Gedanken auf. Katy hatte den Wagen an der Bordsteinkante geparkt, öffnete die Tür und stieg aus.
»Was machst du?«, fragte Jan.
»Schminke kaufen. Außerdem brauche ich gerade mal frische Luft.«
Schminke? Jetzt? Noch bevor er protestieren konnte, warf Katy die Tür zu. Verärgert sah Jan ihr nach. Als sie nach einer Viertelstunde noch nicht zurück war, beschloss er, die Zeit zu nutzen und zu telefonieren. Es dauerte einen Moment, die Telefonnummer herauszufinden und sich verbinden zu lassen. Das eigentliche Gespräch dauerte nicht einmal fünf Minuten.
Anschließend
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