Der Schockwellenreiter
Realität, bis ihn schließlich jemand ansprach. »Verdammt nochmal, Kerl von einem Keiler, bist du blöd und taub, oder was ist mit dir los?«
Wss? Er befreite sich aus der Verpuppung, welcher sein reizüberfluteter Zustand glich, blinzelte einige Male und entdeckte dann, wo er sich aufhielt. Er kannte diese Umgebung. Allerdings nur aus dem 3dF, nicht aus der Wirklichkeit. Vor allem hatte er diesen Ort noch nie gerochen. Die Luft war stickig vom Geruch furchtgepeinigter Tiere und sensationslüsterner Menschen. Zahlreiche Leuchtschilder, schmerzhaft hell, flackerten ein und aus, um seine Entdeckung zu bestätigen. Einige besagten: ZIRKUS BOCCONI; andere verhießen ein wenig diskreter, daß in 11 Minuten eine >Römische Show< beginnen werde. Während er noch hinsah, wich die 11 einer 10. »Was für'n Platz willst du?« maulte die unfreundliche Stimme ihn erneut an. »Zehn, zwanzig, dreißig?«
»Äh.« Er kramte in seiner Tasche und fand ein paar Scheine. Es gehörte zur Atmosphäre, daß man hier Eintrittskarten für die Vorstellungen von einem lebenden Menschen verkaufen ließ, einem narbengesichtigen Mann, dem an der rechten Hand Finger fehlten. Als er das Bargeld sah, zog er ein finsteres Gesicht; doch der Apparat in der Seite seiner Nische stellte die Echtheit des Scheins fest und gab dafür eine Zehn-DollarEintrittskarte aus. Während er sich fragte, was er eigentlich hier mache, folgte er den Zeichen, die ihn einwiesen: $ 10, $ 10, $ 10. Kurz darauf gelangte er in eine weiträumige Halle; womöglich einen umgebauten Flugzeughangar. Zuschauerbänke und Boxen umgaben eine Arena sowie eine Grube. Automaten hängten unechten Dekor auf, Banner mit falsch geschriebenen lateinischen Parolen, um stumpfe Plastikäxte gebundene Rutenbündel aus Plastik. Er bahnte sich mit gewohnheitsmäßiger Höflichkeit seinen Weg zu einem leeren Platz in einer oberen Reihe mit schlechter Sicht und lauschte ohne Scham auf die Äußerungen jener Zuschauer, die bereits früher gekommen waren, den begeisterten Zirkus-Fans.
»Alligatoren mit den Kindern zu vertun, verflixt nochmal! Ich meine, natürlich sind mir meine Kinder so zuwider wie jedem, aber wenn man schon richtige lebende Alligatoren hat - ja, verflixt nochmal!«
»Hoffentlich haben sie diesmal wenigstens ein paar Weiße auf der Speisekarte. Ich bin's satt, es hängt mir zum Hals raus, ewig diese Schwarzen hier zu sehen, die sich aufführen wollen wie ihr Opa im Busch und Löwen mit der linken Hand abmurksen, aber in Wahrheit hängen sie von Aufputschmitteln ab, hängen buchstäblich davon ab!«
»Klar, alles nur Tricks, zum Beispiel haben die Tiere im Gehirn Funkempfänger, damit man verhindern kann, daß jemand wirklich verletzt wird, denn die Versicherungen sind ja so.«
Eine kräftig verstärkte Stimme begann zu dröhnen. »Noch fünf Minuten! In knapp fünf Minuten beginnt das gewaltige Schauspiel! Absolut sicher und ganz bestimmt wird nach Beginn der Vorstellung noch eingelassen! Beachten Sie, daß nur der Zirkus Bocconi an der ganzen Westküste live, live, ja live mit echtzeitfüllenden Vorstellungen auftritt! Und übertragen wird außerdem, damit auch der weniger glückliche Rest des Kontinents was davon hat!«
Plötzlich verspürte er eine ungewisse Furcht und blickte umher, suchte eine Möglichkeit, um sich wieder zu verdrücken. Aber die Zuschauer strömten nun in dichtgedrängten Massen herein, und er brachte gegenwärtig nicht genug Mumm auf, um gegen diesen Strom anzukämpfen. Außerdem näherte sich ihm soeben eine Kamera. Sie befand sich an einem Metallausleger, der dem Vorderbein einer Gottesanbeterin glich, und schwebte an einer schmalen elektrischen Schiene unter dem Dach entlang. Ihr geschliffenes Doppelauge schien sich auf ihn zu fokussieren. Dieser Umstand erhöhte seine Abneigung dagegen, nun Aufmerksamkeit zu erregen, indem er ging, so daß sie den Widerwillen gegen das Bleiben und Mitansehen der Vorstellung überwog. Er schlang sich die Arme um den Leib, um zu verhindern, daß er zu schlottern anfing. Es dauert ja nur eine Stunde, versuchte er sich zu beruhigen.
Die anfänglichen Auftritte ließen ihn mehr oder weniger kalt, obschon sich bei der zweiten Darbietung in einer Luftblase ganz unten in seinen Eingeweiden ein wenig Übelkeit festsetzte: ein waschechter Schlangenschlucker, importiert aus dem Irak, ein häßlicher Mann mit buckliger Stirn, die auf hydro-cephalische Idiotie zu schließen erlaubte, bot einer Schlange seine Zunge an, ließ
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