Der Schockwellenreiter
sie hineinbeißen, zog die Zunge zurück, biß der Schlange den Kopf ab, kaute und schluckte, erhob sich mit schüchternem Grinsen und verbeugte sich vorm entzückten Beifallsgeschrei der Zuschauerschaft. Es folgte ein krampfhaft gekünstelter Kampf zwischen Gladiatoren, der wohl der ganzen Vorstellung den >römischen< Charakter verleihen sollte und endete, als der Netzkämpfer aus einer Beinwunde blutete und der >gewöhnliche< Gladiator - der Mann mit Schwert und Schild - stolzer als ein Truthahn durch die Arena schritt, ohne irgend etwas Beachtenswertes geleistet zu haben.
Lustlose Aversion erfüllte sein Bewußtsein. Es ist widerwärtig. Blutiggehauen, bloß um eine >römische< Wochenendattraktion zu bieten. Schwindel von vorn bis hinten. Drecksauerei. Scheußlich. Hier ist es, wo Eltern die Kinder jener Sorte aufziehen lernen, die ihre Freude daran haben, die Häuser ihnen unbekannter Menschen zu verrotten. Hier trichtert man ihnen ein, es sich gut zu merken, wenn und wie sie ihre Mutter umgebracht haben. Ihrem Vater die Eier abgeschnitten. Den Säugling gefressen, damit Mama und Papa ihn nicht länger lieber haben. Krankhaft. Durch und durch krankhaft. Krankhafter Irrsinn. Im Tarnover hatte es um den Zirkus eine Art von Subkultur gegeben. Irgend etwas dahingehend, daß Aggressionen in gesellschaftlich akzeptable Bahnen gelenkt werden müßten. Die Erinnerung glich angesichts der Wirklichkeit einem schwachen Echo. In seinem Kopf herrschte ein fürchterlicher Wirrwarr. Er hatte Hunger, war durstig und fühlte sich vor allem hundserbärmlich.
»Und nun eine kurze Pause, um der Reklame Zeit für den Zutritt zur großen weiten Welt zu lassen«, dröhnte der Ansager über die unsinnig laut eingestellte Sprechanlage. »Und Zeit für mich, um Sie, hochverehrtes Publikum, auf eine einzigartige Besonderheit unserer römischen Show hinzuweisen. Al Jackson, unser Star-Gladiator, den Sie vorhin sehen konnten, man muß wohl sagen, erleben durften.« Kurzes Schweigen für erneutes Klatschen und Grölen. »/aaa-woll! Ein Mann wie ein Berserker, und die Familie tritt in seine Fußstapfen. Wissen Sie, daß sein Sohn Chef der Arschbrecher-Rotte ist?« Neue Kunstpause. Diesmal ohne Reaktion. Als hätte der Ansager ein lauthalses Geheul der Rotte erwartet; aber sie war bedauerlicherweise an der Teilnahme verhindert. Aber er leitete fachmännisch über die Lücke hinweg. »In jeder Show spricht Al eine Echtzeit-Herausforderung aus - jaaa-woll , im wahrsten Sinne des Wortes eine Herausforderung hier in Echtzeit, ohne Absprachen, ohne Vorbereitungen. Wollen Sie Ihre Geschicklichkeit im Zweikampf mit ihm erproben, Netz und Dreizack ergreifen und zum letzten Stoß antreten? Sie können es tun - jedem von Ihnen steht es frei! Sie brauchen nur aufzustehen und zu rufen, daß sie ganz verrückt danach sind!«
Ohne jede Absicht stand er plötzlich auf den Füßen. » Er hat den Häuptling der Arschbrecher aufgezogen?!«
»Jaaa-woll, Mann ! Ein Sohn, auf den man stolz sein kann, der junge Bud Jackson!«
»Dann werde ich Al in winzigkleine Fetzen zerlegen.« Er verließ seinen Platz, hörte sich mit voller Lungenkraft brüllen. »Ich werde dafür sorgen, daß er weint und wimmert und um Gnade winselt. Ich werde ihn alles lehren, was sein Sohn mich gelehrt hat, und ich werde ihn zum Heulen, Schluchzen, Flehen und Jammern bringen. Und es wird viel länger dauern als diese Vorstellung.« Beifall brandete auf, und die Zuschauer setzten sich zurecht und machten gespannte Gesichter. Jemand klopfte ihm, als er vorbeiging, auf die Schulter und wünschte ihm Glück.
Klarstellung von Ansichten
»Ein klassischer Fall von Todessehnsucht.«
»Blödsinn. Ich hatte nicht die geringste Absicht zu sterben. Ich hatte ja diesen Fettsack schon auftreten sehen. Ich wußte, daß ich ihn ohne Mühe auseinandernehmen konnte, obwohl ich erschöpft war und außer mir vor Wut. Habe ich's etwa nicht bewiesen? Sie wissen, er lag sieben Tage lang im Krankenhaus, und er wird nie wieder aufrecht gehen.«
»Zugegeben. Aber andererseits, sich vor einem 3dF-Publikum so verdächtig zu machen.?«
»Ja. Ja, das ist wahr.«
Gewalt im Medium
Früher hatte man herkömmlicherweise Plakate und Plakatwände verunstaltet oder bekritzelt, manchmal allerdings auch - vorwiegend in ländlichen Gebieten - beschossen, weil die Augen oder Brustwarzen eines Fotomodells ausgezeichnete Ziele abgaben. Später, als es so gut wie in jedem Haushalt eine Sammlung von Transparent-Bildschirmen
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