Der Schoepfer
geheimnisvolle Kraft seine Aufmerksamkeit höchst wirkungsvoll auf seine schwer fassbare Beute zu lenken.
12.
In ihrem Ford Explorer fuhr sie langsam in die Stadt, als die goldenen und rosigen Finger der Morgendämmerung nach den verblassenden Sternen griffen, die sich ihnen entzogen. Es war nur eine Fahrt von vier Meilen, aber als sie ihr Ziel erreicht hatte, war die östliche Hälfte des Himmels von einer Farbenpracht, die jedes Feuerwerk überbot, während sich die westliche Hälfte von Schwarz über Saphirblau bis hin zu einem zauberhaften Pfauenblau aufgehellt hatte.
Erika fünf liebte die Welt. Der winterliche Schnee bezauberte sie, jede Flocke eine winzige vereiste Blume, die weißen Ausblicke, die muschelförmigen Verwehungen, und sie begeisterte sich für die ersten grünen Triebe auf Frühlingswiesen und dann die lodernd gelben sommerlichen Sonnenblumenfelder. Die Berge in der Ferne inspirierten sie: massive Steilklippen aus blankem Fels, die in den Himmel aufragten, und sanftere Hänge, die von immergrünen Bäumen überzogen waren. Der Wald, der sich von den Vorgebirgen bis in die Ebene erstreckte und die Hälfte ihres Anwesens einnahm, war ihre Kathedrale, wo sie oft Dankgebete für das Geschenk sprach, das ihr zuteilgeworden war: die Welt, Montana und ihre Existenz.
Sie war Erika fünf genannt worden, weil sie die fünfte Erika war, alle miteinander identisch wie eineiige Fünflinge, die Victor in seinen Schöpfungstanks in den Händen der Barmherzigkeit in New Orleans gezüchtet hatte. Da sie seinem Ideal von Anmut, Schönheit und erotischen Reizen entsprachen, hatten ihm alle fünf nacheinander als seine Ehefrau gedient, ohne die Vorzüge einer Ehe zu genießen.
Die ersten vier hatten auf die eine oder andere Weise sein Missfallen erregt und waren mit brutaler Gewalt beseitigt worden. Erika fünf, Erika Helios, in Wirklichkeit Erika Frankenstein, hatte während der kurzen Zeit, in der er nach Belieben über sie hatte verfügen können, ebenfalls sein Missfallen erregt, doch er hatte nie Gelegenheit gehabt, ihr ein Ende zu bereiten.
An diesem Oktobermorgen lebte sie, wie schon seit mehr als zwei Jahren, unter dem Namen Erika Swedenborg. Die Fortdauer ihres Daseins nach Victors Tod war schon für sich genommen ein Wunder.
Die beiden Hauptverkehrsstraßen von Rainbow Falls, die Beartooth Avenue und die Cody Street, bildeten eine Kreuzung im Stadtzentrum. Bei den Geschäftsgebäuden im Zentrum handelte es sich vorwiegend um malerische zwei- und dreistöckige Häuser, die meisten aus dem neunzehnten, einige jedoch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, mit auffallend dicken Backsteinmauern, um im Winter die bittere Kälte auszusperren.
In der Cody Street, ein paar Häuser östlich der Beartooth Avenue, fuhr Erika an den Straßenrand und parkte in der Nähe der Bäckerei von Jim James, die für die Schar der Frühaufsteher schon vor dem Morgengrauen öffnete. Einmal in der Woche fuhr sie in die Stadt, um ein Dutzend kalorienreiche Zimtbrötchen zu kaufen, die mit reiner Butter zubereitet wurden. Da auch an Pekannüssen im Teig und an der schimmernden weißen Glasur nicht gespart wurde, waren es die besten ihrer Art, die sie jemals gekostet hatte.
Jim James buk sie selbst nach einem vielfach erprobten Rezept seiner Mutter Belinda. Andy Andrews, Jims Halbbruder, war der Besitzer des Cafés zwei Kreuzungen weiter an der Beartooth Avenue, wo er mittags und abends köstliche Mahlzeiten servierte. Seiner Speisekarte lagen die Rezepte seiner Mutter zugrunde. War Belinda bei der Namensgebung ihrer Kinder auch noch so fantasielos gewesen, so war sie doch eine äußerst raffinierte Köchin gewesen, die ihren Söhnen viel beigebracht hatte.
Als Erika den Motor ausschaltete, bevor sie die Fahrertür öffnete, sah sie jemanden, den sie kannte. Er kam auf dem Bürgersteig näher. Ein Mann in handgefertigten schwarzen Cowboystiefeln, Jeans und einer schwarzen Lederjacke, die in jedem Detail von Modebewusstsein zeugte und daher in keinem der Geschäfte im ländlichen Rainbow Falls zum Verkauf angeboten worden wäre. Groß. Fit. Hart und streng, aber attraktiv.
Victor .
Victor Helios alias Frankenstein. Ihr Ehemann durch eine einseitige Verfügung, die er erlassen hatte, ihr Folterknecht, ihr Herr und Meister, dem sie gehorchen musste, ihr Schöpfer .
Sie hatte ihn für tot gehalten. Oder wenn schon nicht tot, so hätte sie zumindest nicht geglaubt, er hielte sich irgendwo in der Nähe des Staates Montana
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