Der Schoepfer
sie alle vier am Tisch saßen, war die derzeitige Krise nicht ihre erste Sorge. Vorerst war von größerem Interesse, wie Erika hierhergekommen war.
Erst ihr Telefonat mit ihnen in San Francisco hatte ihr bestätigt, dass Victor in der Nacht ihrer Flucht vor ihm getötet worden war. Bis dahin hatte sie lediglich angenommen, er müsse tot sein, denn nur sein Tod hätte sie von dem unbedingten Gehorsam entbunden, der ein Bestandteil ihrer Programmierung war. Aber nun wusste sie es mit Sicherheit.
In jener regnerischen Nacht vor zwei Jahren, als Victors Imperium in die Brüche gegangen war, hatte sie in seiner Villa im Garden District einen geheimen Tresorraum betreten, seine telefonischen Anweisungen befolgt und einen Koffer mit Bündeln von Hundertdollarscheinen, Euros, Inhaberobligationen und grauen Samtsäckchen voller kostbarer Edelsteine gefüllt, in erster Linie Diamanten: sein Notgroschen für den Fall einer Flucht. Wie ihr Ehemann und Schöpfer es ihr befohlen hatte, hatte sie dieses Vermögen zu einem geheimen Treffpunkt nordöstlich des Lake Pontchartrain gebracht.
Doch ehe sie aus dem Wagen steigen und ihm den Koffer übergeben konnte, hatte ein einzigartiges und höchst seltsames Gewitter die Nacht zum strahlend hellen Tag gemacht. Bündel von Blitzen schlugen in das Pflaster um das Fahrzeug herum ein, so zahlreich und von allen Seiten, dass sie von keinem der Fenster des Wagens aus die Landschaft sehen konnte, von der sie umgeben war, nur einen Schirm aus Licht – einen Schutzschirm – von so strahlender Helligkeit, dass sie die Augen schloss und in Erwartung des Todes den Kopf senkte.
»Dank unseres Telefongesprächs«, sagte Erika zu denen, die an ihrem Küchentisch saßen, »weiß ich jetzt, dass das Gewitter in dem Moment hereingebrochen ist, als Victor starb. Das Signal, das sein sterbender Körper an seine Geschöpfe ausgesandt hat, das Signal, das sie alle getötet hat, konnte mich hinter diesem Schutzschirm von Blitzen nicht erreichen.«
»Er hat sich den Blitz eines fürchterlichen Unwetters zunutze gemacht, um mich zum Leben zu erwecken«, sagte Deucalion, »aber es war ein Blitz von nie da gewesener Kraft, und er hat mir mehr als das Leben geschenkt. Er hat mir die Gaben verliehen, die ich irgendwann brauchen würde, um Victor zu vernichten. Und dich haben die Blitze geschützt, weil wir zusammenarbeiten müssen, um ihn zu finden und ihm in seiner mysteriösen neuen Inkarnation Einhalt zu gebieten.«
»Was hat Sie nach Montana geführt«, fragte Michael, »und nicht an irgendeinen anderen Ort?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte das Vermögen in dem Koffer, genug, um an jedem beliebigen Ort ein neues Leben zu beginnen. Ich bin einfach nur gefahren und immer weiter gefahren, nach Lust und Laune, bis ich einen Ort gefunden hatte, der mir richtig erschien.«
Deucalion schüttelte den Kopf. »Nein. Du wurdest von mehr als einer Laune geleitet.«
Dieser Hinweis auf eine Bestimmung ließ sie verstummen. Auf eine harte Pflicht. Auf eine Verantwortung, die schwer zu tragen, wenn nicht gar heilig war.
»Wenn uns eine Art Vorsehung hierhergeführt hat«, sagte Erika, »dann können wir diesen Krieg gewiss nicht verlieren.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, warnte Deucalion. »Wir haben einen freien Willen, können das Richtige oder das Falsche tun. Ein Fluch, den unsereins und die Menschheit miteinander gemeinsam haben. Selbst wenn unser Verstand klar ist, kann auch uns unser Herz leicht irreleiten.«
»Und außerdem«, sagte Carson, »hatten wir in New Orleans am Ende mehr Verbündete als diesmal. Hier in Rainbow Falls sind wir nur zu viert.«
»Es gibt noch einen Fünften«, sagte Erika. »Sowohl er als auch ich haben uns gesagt, ihr bräuchtet Zeit, um euch meine Geschichte anzuhören, bevor ihr ihn kennenlernt. Seine äußere Erscheinung ist … gewöhnungsbedürftig.«
Türangeln quietschten und lenkten die Aufmerksamkeit der Gäste auf die Tür zu einer Speisekammer, die einen Spalt weit offen stand.
In die Küche trat eine Art Troll in Kinderkleidung, Rumpelstilzchen hoch drei, ein Kakodämon, ein böser Geist, ein Kobold, ein Ding , für das es kein Wort gab, ein Ding, das einen Schlapphut trug, der mit winzigen Glöckchen verziert war. Eine abscheuliche Gier ließ seine gespenstisch gelben Augen leuchten, und sein grässliches Gesicht verzog sich zu einer Maske des Hasses, so unverhohlen, dass Carson und Michael – und sogar Deucalion – ihre Stühle vom Tisch
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