Der Schoepfer
Aber sie meinte, sie würde von einer Sehnsucht nach etwas Reinem und Vollkommenem getrieben. Der Hunger hätte eine Art Leere in ihr geöffnet, die Licht und Staub an einen Ort lässt, wo es sonst kein Licht und keinen Staub gibt. Sie meinte, sie sähe einen mit Parkett ausgelegten Ballettsaal im zehnten Stock irgendwo in New York vor sich. Da fiele die Sonne nachmittags schräg durchs Fenster, wie ein Kegel mit schwebenden Staubpartikeln, und die Stille dort wäre unendlich. Und obwohl eine träge Melancholie über allem hinge, gäbe es unglaublich viel Platz.«
»Das kann ich nicht verstehen«, sagte Lóa. »Ich verstehe kein Wort.«
»Genau das hat sie auch gesagt«, entgegnete Björg und schaute Lóa unter geraden, schwarzen Brauen entschuldigend an. »Sie hat gesagt, du würdest sie nicht verstehen. Das Einzige, was sie sich im Leben wünschen würde, wäre ein klarer, stiller Raum, aber du würdest ihr immer nur alles aufzwingen. Stopfen und stopfen, bis kein Platz mehr wäre. Sie hat gesagt, dass sie dieses brutale Gewimmel von Dingen hasst, die weder alt noch neu sind, diese ganzen überflüssigen Wörter, Farben und Gerüche, die sich vermischen, und diesen endlosen Lärm überall.
Ihre Vorstellung von Vollkommenheit ist so rigoros, dass von der Welt nichts mehr übrig wäre, wenn sie alles Überflüssige aufsammeln würde. Ich habe sie auf diesen kleinen Gestaltungsfehler hingewiesen, aber da hat sie wieder nur gesagt, sie bräuchte Platz. Sie ist die ganze Zeit auf diesem Wort rumgeritten, Platz , als benötige sie eine Fläche von hundert Quadratmetern und vier Meter hohe Decken, nur um atmen zu können.«
In Lóas Kehle stauten sich wieder Tränen auf, und sie musste dreimal schlucken, bevor sie antworten konnte: »Wenn sie will, dass ich ihr Platz gebe, um sich umzubringen, damit sie ein stilvolles, einsames Begräbnis in einem großen Kirchengewölbe kriegt, kann sie lange warten. Sie bekommt keine verdammte minimalistische Beerdigung mit weißen Blumen.« Lóas Stimme war lauter geworden, ohne dass sie es gemerkt hatte.
»Pssst, red nicht so laut. Ich musste ihr versprechen, dir nicht alles zu sagen, was sie mir erzählt hat, obwohl sie natürlich genau wusste, dass ich das sofort brechen würde. Und sie hat noch mehr gesagt, was ich nicht verstanden habe. Ich weiß noch nicht mal, ob ich versuchen soll, es wiederzugeben.«
Lóa zuckte mit den Achseln.
»Na gut, okay«, sagte Björg, beugte sich über den Tisch und legte ihre schlanken Arme quer über die Tischplatte, so dass ihre Finger Lóas Tasse berührten. »Okay, ich versuche es, damit du nicht glaubst, es wäre etwas Ernstes. Margrét hat, als sie das Glas ausgetrunken hatte, plötzlich furchtbar angefangen zu heulen und zu schluchzen. Ich habe sie gefragt, warum sie heult, und nach und nach hat sie gestammelt, dass sie das Blut an einen Vorfall erinnert hat, als Ína fünf war. Margrét hatte sich aus Versehen mit einem scharfen Messer in den Finger geschnitten und Ína die Wunde gezeigt, um sie ein bisschen zu erschrecken, aber Ína hat ein völlig ausdrucksloses Gesicht gemacht,
wie hypnotisiert nach Margréts Hand gegriffen und versucht, sie in den Mund zu nehmen. Und als Margrét kapiert hat, dass Ína das Blut ablecken wollte, hat sie ihre Hand zurückgezogen und Ína gegen einen Stuhl geschubst. Dabei ist Ínas Kopf gegen die Wand geknallt, und sie hat laut losgeheult.«
»Daran erinnere ich mich gar nicht«, sagte Lóa.
»Vielleicht warst du im Nebenzimmer, sie haben dir das wahrscheinlich nicht so genau erzählt, sie standen beide unter Schock, außerdem können Kinder solche Sachen nicht so gut in Worte fassen. Sie sagen einfach nur: Dieser oder jener hat mich geschubst oder getreten, und damit ist die Sache erledigt, meinst du nicht?«
»Vermutlich«, antwortete Lóa.
»Ich habe nicht verstanden, warum sie gerade jetzt davon erzählt, geschweige denn, warum sie deshalb heult, als würde es irgendeine Rolle spielen, als würden sich Geschwister nicht ständig in fast allen Familien streiten. Ich hab ihr also übers Haar gestrichen, ich musste mich dabei über dieses Ding lehnen, das du aus Akranes mitgebracht hast, und sie gefragt, ob sie deshalb ein schlechtes Gewissen hat, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und die Augen zugemacht, so als würde ich schlecht riechen, als wäre meine Hand eine unerträgliche Last, obwohl ich sie nur ganz leicht auf ihre Stirn gelegt habe. Ich habe sie gefragt, warum sie denn dann
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