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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihre Handfläche roch immer noch nach den gefrorenen Eiswürfeln.
    Lóa zuckte zusammen, als ihr Björg, nach Schlaf und Dior-Parfüm von gestern riechend, den Arm um den Hals legte und einen Kuss auf die Wange drückte. Ihre Wange kühl an Lóas brennender Haut. »Ich mache das«, sagte Björg und nickte zu dem Glas auf dem Nachttisch. »Geh und kümmere dich um Ína. Sie ist wach, ich habe sie in ihrem Zimmer singen hören.«
    Lóa nickte, immer noch die Hand vorm Mund, und schwankte in den Flur. Es war, als schaue sie durch eine Fensterscheibe mit Eisblumen – die Tränen versperrten ihr den Blick, und der Kloß in ihrem Hals war so groß wie Margréts knochige Faust.
    Sie musste an die Zigaretten auf dem Wohnzimmertisch denken. Früher, als sie noch geraucht hatte, war die Wirkung von Tabak manchmal verblüffend gewesen: Tränen, die fest entschlossen waren zu fließen, wurden aufgehalten und verschwanden sogar wieder in den Augen, wenn man die Zigarette halb geraucht hatte.
    Aber nein. Ína wäre entsetzt, sie rauchen zu sehen, und außerdem würde ihr bestimmt schlecht werden. Sie trommelte leicht gegen ihre Schläfen und schluckte ununterbrochen. Überlegte, ins Bad zu gehen und sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, hatte aber Angst, dass sie laut schluchzend losheulen musste und nicht wieder aufhören konnte, sobald sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.
    Mit energischen Schritten ging sie zu Ínas Zimmer und riss die Tür auf. Ína saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden und hatte eine nackte Barbiepuppe in der Hand, die ein winziges Mikrofon in ihrer ewig geschlossenen Faust hielt. Lóa
registrierte, dass der gewölbte Plastikbusen keine Brustwarzen hatte.
    Als Ína aufschaute, wurden ihre Augen rund vor Angst. »Was ist los, Mama?«
    »Nichts«, sagte Lóa.
    Ína sah verwirrt aus, wie immer, wenn sie angelogen wurde, packte die Puppe an den Haaren und wirbelte sie ein paar Mal im Kreis, bevor sie aufsprang und sagte: »Gehen wir jetzt das Fahrrad kaufen?«
    »Was für ein Fahrrad?«
    »Das Fahrrad, mein Sommergeschenk. Gestern hast du gesagt, dass wir morgen ein Rad für mich als Sommergeschenk kaufen, und jetzt ist morgen.«
    Während dieser Ansprache folgte sie Lóa in die Küche und wartete dann mit zitternden Fingern und erwartungsvoll fragenden Augen auf eine Antwort.
    Lóa schraubte den Deckel von der Kaffeedose und sagte: »Ach, Schatz, habe ich das wirklich gesagt? Ich meinte am Montag. Heute ist doch Sonntag, und die Geschäfte haben sonntags zu.«
    Ína verdrehte die Augen. »Die Geschäfte haben sonntags nicht zu. Wir waren schon oft sonntags einkaufen.« Sie benutzte ihre rechte Hand als Pistole, zielte damit auf ihren Kopf, schnalzte, um das Geräusch nachzumachen, wenn der Hahn gespannt wurde, und drückte mit dem dazugehörigen Knall ab.
    Lóa verdrehte ebenfalls die Augen. Sie konnte diese Marotte, die sich Ína bei ihrem Vater abgeschaut hatte, nicht ausstehen. Ihr Vater machte das, wenn er etwas gesagt hatte, das lustig sein sollte, aber nicht richtig ankam. Ína machte es hingegen ständig: wenn jemand, sie selbst eingenommen, etwas sagte, das sie doof, komisch, falsch oder albern fand.

    »Können wir nicht jetzt gleich gehen?«, säuselte sie. »Morgen bin ich zum Geburtstag eingeladen, das weißt du doch noch, oder? Und wir müssen noch ein Kostüm basteln. Ich will Elfe werden, mit einem Zauberstab.«
    »Der Geburtstag ist erst nachmittags, Schatz. Da bleibt genug Zeit für beides.«
    »Aber ich muss noch radfahren üben, bevor ich zu Papa gehe.«
    »Wieso üben? Du kannst doch radfahren«, entgegnete Lóa müde und schaltete die Kaffeemaschine ein.
    »Ich muss freihändig lenken üben und so«, sagte Ína angespannt, in ihrer eigenen Machtlosigkeit treibend wie ein Torpedo auf dem offenen Meer. Die arme Kleine hatte immer Lampenfieber, bevor sie zu ihrem Vater fuhr. Er vergötterte sie, aber sie musste mit ihren beiden kleinen Halbbrüdern um seine Aufmerksamkeit kämpfen. Lóa erinnerte sich dunkel, mit welch tödlichem Ernst solche Kämpfe ausgetragen wurden, und hatte Mitleid mit Ína, die an allen Fronten verlor. Tagtäglich gegen den Lagerhäftling Margrét, der wahrscheinlich gerade in seinem Zimmer gefoltert und verhört wurde, und an einem oder zwei Wochenenden im Monat gegen hyperaktive Randalierer im schlimmsten Alter.
    »Wir kaufen das Fahrrad morgen, wenn Margrét ihre Geschichtsklausur schreibt«, sagte Lóa. »Ich

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