Der Schoepfer
Tür. Sie klopfte leise und wartete einen kurzen Moment, bevor sie öffnete und das Zimmer betrat. Margrét lag zusammengekauert im Bett, den Rücken dicht an der Seite der Puppe, die mit offenen Augen dalag und an die Decke starrte, als führe jemand auf der weißgestrichenen Fläche ein Schattentheater vor. Margrét war nicht richtig zu sehen, da sie mit dem Gesicht zur Wand in der kühlen Dämmerung lag, und Lóa brauchte eine Weile, um zu merken, dass sie schlief. Ihr zarter Brustkorb bewegte sich leicht unter der Bettdecke, ihre Augen waren geschlossen und entspannt, ihre zerzausten Haare erinnerten an ein verlassenes Vogelnest. Es war monatelang her, seit Lóa sie zum letzten Mal schlafen sehen hatte – die Ärztin meinte, sie würde nachts nur drei oder vier Stunden schlafen, solange sich ihr Körper in diesem
Zustand befände. Es sei ganz normal, dass Margrét weinerlich sei, hatte die Ärztin gesagt. In diesem elenden Zustand war das wohl nicht verwunderlich, ausgehungert und unausgeschlafen.
Lóa stellte das Glas auf den Nachttisch und zog die Vorhänge auf. Das Licht brachte Margréts Hände zum Zucken, und ihr Kopf bewegte sich unter dem Haarfilz. Sie streckte die Beine aus und versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, stieß jedoch gegen die Puppe und setzte sich schnell auf, mit zusammengekniffenen Augen, als hätte ihr jemand mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. Sie sah aus wie ein kleines Kind, das mitten in der Nacht aufgewacht war, und etwas drang in Lóas Bewusstsein, wurde aber gleich wieder von dem Schmerz in ihrem Kopf verjagt.
»Scheiße«, murmelte Margrét, und der kindliche Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand sofort.
Lóa fühlte sich gezwungen, Margréts Pessimismus mit vorgetäuschter Fröhlichkeit zu überspielen, obwohl sie wusste, dass Margrét das unsäglich auf die Nerven ging.
»Einen wunderschönen Frühlingsmorgen«, sagte sie.
Margrét wand sich, als sei sie von einer bösen Macht besessen und als seien die Worte ihrer Mutter Weihwasser.
»Heute Nachmittag wird es bestimmt warm genug sein, um ein bisschen im Garten zu sitzen«, sagte Lóa. »Du kannst deine Geschichtsbücher mit rausnehmen. Morgen ist doch die letzte Prüfung, oder? Dann hast du es hinter dir, mein Schatz.«
»Ja, dann darf ich wieder in die Irrenanstalt«, sagte Margrét. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem sarkastischen Pseudogrinsen, und die Wangen unter ihren toten Augen legten sich in dünne Falten.
Lóa war wie vor den Kopf geschlagen – sie konnte nicht
länger so tun, als hätte sie gute Laune. Margréts Zustand war eine Last, die ein einzelner Mensch nicht aushalten konnte. »Du musst bestimmt nur ein paar Tage im Krankenhaus bleiben«, sagte sie, »du hast so gut durchgehalten.«
Margrét schnaubte. »Hast du nicht viel besser durchgehalten? Sie sind bestimmt zufrieden mit dir.«
Björg erschien in Unterhose und Hemdchen mit Libellenmotiven in der Türöffnung. »Gibt’s eine Schlafanzugparty?«, fragte sie. »Ist…« Anstatt noch etwas hinzuzufügen, starrte sie nur noch die Puppe an. Nacktes Entsetzen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie sah sich nicht mal mehr ähnlich, sondern glich einem Gemälde, das Die Verwunderung oder Der Mensch trifft auf das Unerwartete hätte heißen können. Lóa hätte gelacht, wenn noch ein Hauch von Lachen in ihr gewesen wäre. Stattdessen stand sie verdattert da und fühlte sich so einsam wie noch nie. Björg war intelligent und hatte eine rasche Auffassungsgabe, aber jetzt wirkte sie völlig benommen.
Obwohl. Ihr Mund klappte zu, und ihr Blick wanderte einen Moment in die Ferne, so als würde sie im Geiste etwas ausrechnen. Sie schaute schnell zu Lóa und dann zu Margrét, die gekrümmt im Bett saß und an ihren Fingernägeln knabberte, völlig versunken in diese unwürdige Tätigkeit, bis sie mit verwunderter Stimme Scheiße! sagte und aufschaute. Ein Blutstropfen hing an ihrer Unterlippe, und ein anderer rann an ihrem Daumen hinunter zu ihrem mageren Handgelenk.
Lóa starrte die wertvolle Flüssigkeit an, als hätte sie noch nie Blut gesehen – als sei dies nicht nur ein Blutstropfen, sondern das Leben selbst, das direkt vor ihren Augen aus Margrét floss. Ihr wurde schwarz vor Augen, und alles wurde dunkel, bis auf den Blutstropfen, grellrot wie eine Johannisbeere in der Hölle. »Verdammt noch mal«, hörte sie sich selbst mit gepresster
Stimme sagen und hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes von sich geben würde, also
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