Der Schoepfer
reißen.
Margréts Jeansjacke hing federleicht über ihrem Arm. Das verschwindend kleine, stoffarme Kleidungsstück war Margréts absolute Lieblingsjacke, und es war höchst merkwürdig, dass sie sie zurückgelassen hatte.
Lóa schaute in alle Klassenzimmer, die nicht abgeschlossen waren. Und in die Toiletten. Erst in die Mädchentoilette, in der sich sieben schmale und eine breitere Kabine befanden, eine ganze Wand mit dunkelgrünen, geschlossenen Türen. Weiße Fliesen an Boden, Wänden und Decke, weiße Waschbecken.
»Margrét?« Ihre Stimme dröhnte kalt und nackt zwischen all den harten Flächen, und ihre Brust zog sich zusammen.
Dann in die Jungentoilette, aber sie ging rückwärts wieder raus. Margrét würde nie auf die Idee kommen, sich dort zu verstecken.
Es hatte keinen Sinn, sie weiter zu suchen. Lóa spürte, dass Margrét nicht hier war. Sie war geflohen. Sie wollte nicht in die Klapsmühle.
Was für eine verdammte Scheiße.
Die Angst glitt wie schleimiger, kalter Seetang über ihre Haut, legte sich um ihren Hals und ihren Oberkörper. Sie spürte die Adern in ihrer Kehle heftig pochen, ihren Mund trocken werden, und Ína wartete alleine draußen im Auto, bestimmt rasend vor Ungeduld.
Lóa wurde von der irrationalen Angst befallen, Ína könnte auch abgehauen sein, und obwohl sie wusste, dass das nicht möglich war, rannte sie durch den endlosen Flur zu der wettergepeitschten Haustür, die gerade zuschlug, als sie sie wieder aufstieß und mit großen Schritten zum Parkplatz ging.
Ína war noch im Wagen, Gott sei Dank, und ihr Gesichtsausdruck und ihre Haltung zeugten von großer Unzufriedenheit. Als sie ihre Mutter sah, reagierte sie prompt, sprang aus dem Auto, stürzte dann wieder hinein und knallte die Tür zu. Ihre Erleichterung wich der Enttäuschung, so lange allein gelassen worden zu sein.
»Wo warst du? Mir ist so kalt«, sagte sie und klapperte mit den Zähnen, als Lóa sich neben sie in den Wagen setzte.
»Entschuldige, mein Schatz«, sagte Lóa. »Ist dir so kalt? Warum hast du denn deinen Anorak nicht angezogen?« Sie reckte sich nach dem Kapuzenanorak auf dem Rücksitz und wickelte das Kind darin ein. Sie nahm Ína kurz in den Arm, bekam aber einen Kloß im Hals, als sie ihren Geruch in der Halsbeuge wahrnahm, und schob sie wieder von sich.
»Wo ist Margrét?«, fragte Ína.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lóa und legte die Jeansjacke auf den Rücksitz. »Sie muss zu Fuß nach Hause gegangen sein.«
»Bei dem Sturm?«
»Scheint so. Ich weiß es auch nicht, Schatz, willst du dich nicht anschnallen?«
»Doch«, sagte Ína und schien sich plötzlich daran zu erinnern, dass sie das kleine, fast erfrorene Mädchen mit den Schwefelhölzern war. Mit steifen Fingern tastete sie nach dem Sicherheitsgurt und tat so, als rutsche er ihr immer wieder aus der Hand, wobei sie ununterbrochen mit den Zähnen klapperte.
Lóa holte ihr Handy heraus und betrachtete es lange, bevor sie beschloss, Björg anzurufen.
»Hi«, antwortete Björg.
»Bist du zu Hause?«, fragte Lóa.
»Bei dir zu Hause? Nein, warum?«
»Margrét ist weg.«
Das entsetzte Schweigen am anderen Ende der Leitung ließ Lóa wieder zu sich kommen. »Sie ist nicht in der Schule. Als ich sie abholen wollte, war sie weg, aber ihre Jacke und ihr Handy waren noch da. Ich weiß nicht, wo sie hingegangen sein könnte …«
»Fahr sofort zur Polizei«, sagte Björg, »und ruf deine Mutter an. Ich bin in einer halben Stunde bei dir.«
Lóas Hände waren taub. Sie legte das Handy auf das Armaturenbrett und schaute zu Ína, die zurückstarrte, unbewegt wie eine Statue.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Lóa und nahm Ínas Hände fest in ihre. »Ich rufe Oma an und bitte sie zu kommen, damit jemand da ist, wenn Margrét vor uns nach Hause kommt.«
Die Polizeiwache war im Vergleich zu den umliegenden Gebäuden niedrig. Die Vorderseite braun gestrichen, schroff und abstoßend. Ína lief fügsam neben ihrer Mutter her, den Anorak bis zum Kinn zugezogen, und hatte seit dem Parkplatz vor der Schule kein Wort mehr gesagt.
Im Foyer war die Luft trocken und papierartig. Dort standen Stühle und Bänke mit Kunstlederbezügen, ein längliches Schreibpult mit zehn unterschiedlichen Formularen und ein Glaskasten, in dem eine sehr beschäftigte Frau saß.
Ína schleppte sich zu einer Bank und setzte sich schwerfällig in die Mitte. Als sei sie kein Kind mehr mit Dummheiten im
Kopf, sondern nur ein Körper, der irgendwo
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