Der Schoepfer
aufbewahrt werden musste. Sie reichte nicht mit den Füßen auf den Boden, aber anstatt mit den Beinen zu baumeln, ließ sie sie einfach nur hängen. Der eine Holzschuh glitt von ihrem Fuß, landete polternd auf dem Fußboden, und eine rosa Socke mit roten, aufgenähten Blumen kam zum Vorschein.
Lóa ging mit unsicheren Schritten auf den Glaskasten zu. Sie zweifelte plötzlich an ihrem Recht, einfach hineinzustürmen und verlangen zu dürfen, dass das System Partei für sie ergriff. Obwohl sie die Fassung bewahrte, fürchtete sie zum ersten Mal in ihrem Leben, als hysterisches Weib abgestempelt zu werden, oder dass die Gesetzeshüter Alkoholgeruch an ihr wahrnähmen, obwohl überhaupt keiner da war.
»Verzeihung«, sagte sie zu der Frau, die daraufhin endlich aufschaute, immer noch mit einer tiefen Konzentrationsfalte zwischen den Augen. »Verzeihung«, wiederholte Lóa, als würde die Frau sie nur hören, wenn sie sich in die Augen schauten. »Meine Tochter ist verschwunden. Sie ist von zu Hause weggelaufen. Bin ich hier richtig, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben?«
Die Frau warf Ína aus dem Augenwinkel einen Blick zu und sagte: »Wie alt ist sie, und wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Sie ist fünfzehn, fast sechzehn. Ich habe sie heute Morgen zur Schule gefahren, und als ich sie abholen wollte, war sie weg, hatte aber ihre Jacke und ihr Handy dagelassen«, sagte Lóa und schwenkte Margréts Handy wie ein Beweismittel.
Die Frau schaute sie ungläubig an. »Sechzehn?«, sagte sie langsam und deutlich, als erwarte sie, dass Lóa etwas merken, den Kopf schütteln, auflachen und sagen würde: »Oh, stimmt ja, sie ist sechzehn. Wie dumm von mir! Man gewöhnt sich so schwer daran, dass sie schon fast erwachsen ist.«
»Nein«, sagte Lóa mit schriller Stimme und spürte, dass sie nach Luft schnappen musste. Sie war kurz davor, so zu klingen wie das hysterische Weib, das sie am allerwenigsten sein wollte. »Sie ist eine Gefahr für sich selbst und sollte in der Psychiatrie sein. Sie ist krank und hat keine Freunde, es ist völlig ausgeschlossen, dass sie zusammen mit ihren Schulkameraden die Zeit vergessen hat. Sie ist von zu Hause abgehauen, weil sie nicht zurück in die Klinik will, aber sie muss unbedingt wieder eingeliefert werden, es geht um Leben und Tod.«
»Ich verstehe«, sagte die Frau zögernd. »Haben Sie ein Foto von ihr?«
Lóa riss ihr Portemonnaie aus der Tasche und blätterte mit zitternden Fingern die Ausweise und Papiere durch, bis sie ein Passfoto von Margrét fand, das sie der Frau durch die Luke in der Glasscheibe reichte.
»Das war an ihrem vierzehnten Geburtstag, aber sie sieht nicht mehr so aus. Sie wiegt zwanzig Kilo weniger.«
Die Frau straffte ihren Rücken und befestigte das Bild mit einer Büroklammer an einem leeren Blatt Papier. »Kommen Sie noch mal wieder, wenn sie bis morgen früh nicht zu Hause ist, und versuchen Sie, ein neueres Foto von ihr zu finden«, sagte sie. »Aber sie kommt bestimmt spätestens heute Nacht zurück. Das machen sie meistens«, fügte sie hinzu, und ihre Augen strahlten sowohl Bestimmtheit als auch Mitleid aus. Eine solche Mimik besaß man nur, wenn man lange Zeit in einem durchsichtigen Käfig mit einer Durchreiche verbracht hatte, und Lóa merkte, dass es nichts bringen würde, mit ihr zu verhandeln oder ihr zu drohen. Sie wusste, dass sie nur ernst genommen würde, wenn sie die Fassung bewahrte – anderenfalls nicht.
Ína ließ sich widerstandslos zum Auto bringen, machte
jedoch keine Anstalten auszusteigen, als Lóa vor ihrem Haus geparkt hatte. »Gehen wir Margrét nicht suchen?« Angst zeichnete sich mit Runzeln und Falten auf ihrer Stirn ab.
»Doch, mein Schatz, aber nicht sofort«, sagte Lóa. »Erst müssen wir Oma und Björg guten Tag sagen und überlegen, wo wir suchen sollen. Es bringt nichts, einfach ziellos durch die Gegend zu fahren. Reykjavík ist zu groß.«
»Wie groß?«, jammerte Ína.
»Es gibt viele tausend Häuser und viele hundert Straßen«, antwortete Lóa. Sie gingen ins Haus, ohne sich um das Fahrrad im Kofferraum zu kümmern.
Im Treppenhaus liefen sie dem Puppenmacher in die Arme, der eine verbundene Hand und Margréts Sommergeschenk auf der Schulter hatte. Arme und Haare der Puppe hingen schlaff an seinem Rücken herunter, und ihre leblosen Hände schlugen bei jedem Schritt gegen seine Lenden. Der gestreifte Flanellstoff spannte sich über ihren perfekten Knackarsch, der dicht an seinem Kopf lag. Er
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