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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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antwortete Lóa, »aber ich wäre froh, wenn Sie zu ihr ins Zimmer gehen und nachschauen würden, ob Margrét bei ihr ist.«
    »Das hätten wir ja wohl mitbekommen, wenn jemand bei ihr im Zimmer wäre.«
    »Nein.« Lóa bemühte sich, ruhig zu atmen. »Da bin ich mir nicht so sicher. Bitte verstehen Sie, dass ich das überprüfen muss, wie abwegig es auch sein mag.«
    Nach kurzer Bedenkzeit antwortete der Mann: »Warten Sie einen Augenblick.«
    Sie hörte, wie er den Hörer ablegte und seine Schritte sich langsam entfernten. Dann wurde es still, und Lóa betrachtete ausdruckslos Margréts Jeansjacke, die neben ihr über der Stuhllehne hing. Das Handy steckte immer noch in der Jackentasche. Natürlich. Darin mussten auch Namen und Telefonnummern von Freunden und Bekannten gespeichert sein, die Lóa noch nicht kannte.
    Die Stimme von Agla Steinunns Vater riss sie aus ihren Gedanken: »Nun wissen wir es. Ihre Tochter versteckt sich nicht bei Agla unter der Bettdecke. Sie sagt, sie hätte sie seit letzter Woche Mittwoch nicht mehr gesehen. Sie ist jetzt also wach. Möchten Sie mit ihr sprechen? Möchten Sie, dass ich unter ihrem Bett nachsehe?«
    »Nein, danke«, antwortete Lóa und beendete das Telefonat schnell, bevor sie etwas sagte, das sie später bereuen würde.
    Sie wählte noch zwei weitere Nummern auf der Liste – verwunderte,
aber hilfsbereite Eltern, die gewiss der Vorsehung dafür dankten, dass ihre Töchter in behaglicher Geborgenheit vor dem Fernseher saßen –, bevor sie das Adressbuch in Margréts Handy durchschaute. Sie beschloss, eine Kopie davon zu machen und das Handy am nächsten Tag der Polizei zu übergeben. Die wussten bestimmt besser als sie, was man mit den darin enthaltenen Informationen anfangen konnte.
    Lóas Blick fiel auf einen unbekannten Namen – falls man es als Name bezeichnen konnte: Nexusboy . Als sie das Gerät ans Ohr hielt, hatte sie fast das Gefühl, es handele sich nicht um Margréts Handy, sondern um Margréts kalte Hand, die auf ihrer erhitzten Wange lag. Natürlich war das Einbildung, aber Lóa meinte den matten Duft des White-Musk -Parfüms wahrzunehmen, dem Margrét die Treue hielt, seit sie zwölf Jahre alt war.
    »Hi, Marge«, antwortete die fröhliche Stimme eines jungen Mannes.
    »Wer ist da?«
    Es gab eine kurze Pause, und als der Junge antwortete, kam er vor Unsicherheit ins Stocken. »Ist da nicht Margrét?«
    »Nein, hier ist ihre Mutter«, sagte Lóa. »Ich suche sie. Wenn du weißt, wo sie ist, musst du mir das sagen. Du hilfst ihr nicht, wenn du sie deckst.«
    Man konnte hören, dass der Junge einen trockenen Mund hatte, als er antwortete: »Ich hab sie nie getroffen, wir kennen uns übers Internet.«
    »Hat sie dir nichts von ihrem Plan erzählt, von zu Hause wegzulaufen?«
    »Nein, ich hab lange nichts mehr von ihr gehört.«
    »Wie lange?«
    »Ich weiß nicht, drei oder vier Monate vielleicht.«

    »Wie alt bist du?«, fragte Lóa. Das tat vielleicht nichts zur Sache, aber sie wollte es wissen.
    »Einundzwanzig. Wir haben nur ein paar Mal miteinander geredet. Ich weiß nichts über sie«, sagte er und legte auf.
    Der Gedanke an Margréts geheimes Leben brachte Lóa völlig aus der Fassung. »Verdammter Mist«, sagte sie laut und knallte das Handy so fest auf den Tisch, dass es quer über das Display einriss, sich eine Abdeckung von der Rückseite löste und klappernd auf den Boden fiel.
    Lóa reckte sich langsam nach der Abdeckung, befestigte sie wieder, schaltete das Handy ein, das bei dem Schlag ausgegangen war, und überprüfte, ob noch alles funktionierte.
    Es war weit nach elf Uhr, und sie traute sich nicht, noch mehr Leute anzurufen, blieb einfach sitzen und starrte in die klaffende Finsternis auf dem Dachboden. Dort hatte sie ein Arbeitszimmer einrichten wollen, aber dann hatte sie sich eingestehen müssen, dass der Dachboden für Unfälle prädestiniert war und die Pläne warten mussten, bis Ína groß genug war, ihre Beine unter Kontrolle zu halten. Lóas Mutter hatte vorgeschlagen, den Raum mit einem Gitter abzutrennen, aber das konnte sie sich nicht vorstellen. Der Dachboden sollte ihr Zufluchtsort sein, wo sie geradezu in der Luft schwebte, nicht unmittelbar in den vier Wänden der Wohnung, aber dennoch mit einem wachsamen Auge auf alles, was dort unten vor sich ging.
    Lóa schoss das jüdische Sprichwort durch den Kopf, auf das sie mal irgendwo gestoßen war und das sie für die Werbung einer Versicherung benutzt hatte: Gott kann nicht überall

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