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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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sein, deshalb hat er Mütter geschaffen.
    Lóa hatte die Tür, den früheren Eingang zum Dachboden, zumauern lassen wollen, es aber dabei belassen, sie abzuschließen und das Schlüsselloch zuzukleben, weil die Tür dem Wohnzimmer
einen interessanten Anstrich gab. Als ihr Leben noch so alltäglich gewesen war, dass das Wort poetisch in ihren Ohren verlockend klang, gefiel ihr die Tatsache, eine schwebende Tür über sich zu haben.
    Sveinn erschien mit einem Gläschen mit Tabletten im Türrahmen, kippte es in seiner Handfläche aus und schluckte den Inhalt hinunter, ohne sich die Mühe zu machen, Wasser zu holen. Er starrte auf die Wand hinter ihr, während er verkündete, es täte ihm leid, dass ihre Tochter immer noch nicht nach Hause gekommen sei, wünschte ihr trocken gute Nacht und verschwand in Margréts Zimmer.
    Lóa ging in die Küche und füllte ein großes Glas mit Apfelsaft. Im Augenblick hatte sie überhaupt kein Verlangen nach Alkohol. Und eigentlich kein Verlangen nach irgendwas, außer Margrét lebendig zu finden und sie einsperren zu lassen, damit sie einigermaßen sicher war.
    Als sie wieder am Esstisch saß, zog sich zum hundertsten Mal ihr Herz zusammen bei dem Gedanken an Margrét, die sich in ihrem elenden Zustand draußen im kalten Wind befand, obwohl sie wusste, dass das unrealistisch war. Margrét hatte nicht die Kraft, stundenlang durch die Straßen zu irren. Sie wäre schon längst irgendwo bewusstlos gefunden worden. Aber Lóa hatte schon bei allen Krankenhäusern angerufen und zweimal bei der Polizei nachgefragt.
    Es war ebenfalls ausgeschlossen, dass Margrét auf die Idee käme, ins Wasser zu gehen oder sich vor ein Auto zu werfen. Sie war zu taktvoll, um sich aktiv das Leben zu nehmen. Ihr Protest war passiv – in diesem Sinne war sie eine Art Schülerin Gandhis. Außer, dass Gandhi gegen jenen Teil des Lebens protestierte, den man Unterdrückung nannte, während Margrét gegen das Leben an sich protestierte.

    Lóa hatte lange gebraucht, um sich darüber klar zu werden, wie fasziniert Margrét vom Tod war. Wie sollte sie diese Sehnsucht ihrer Tochter auch verstehen können? Eine Sehnsucht, die nichts anderes war als ein Missverständnis. Eine falsche Einstellung, falls diese Formulierung in irgendeiner Form berechtigt war.
    Der Tod war keine befreiende Macht oder Heilung jenes kranken Zustands, den man Leben nannte, sondern ein strafender, zermalmender, messerscharfer Schmerz, der mit dem Leben spielte wie eine Katze mit einer Maus. Eine dumme und unberechenbare Übermacht – eine einfältige Kraft, blind gegenüber der komplizierten Empfindlichkeit des Lebens. Lóa konnte nichts Schönes an ihm sehen. Ebenso wenig wie an einem bekotzten Hooligan mit blutender Nase, der eine zerbrochene Flasche schwenkte. Der Tod war brutal, und sie verachtete die Heuchelei derjenigen, die versuchten, sich selbst und anderen einzureden, es sei anders. Lóa nahm den Tod persönlich, so wie der römische Kaiser – wie hieß er noch mal? –, der im Todeskampf verlangte, sein Volk möge mit ihm untergehen. Seine letzten Worte waren: Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Nacken, damit ich es mit einem Mal erwürgen kann.
    Nein, Lóa sah keinen Grund, sich demütig wie ein Lamm zu verhalten, wenn der Tod ihrer Tochter mit feuchtkaltem Glänzen in den Augen auflauerte. Ihr Herz hämmerte in lähmender Wut. Nicht auf Margrét war sie wütend. Nicht mehr. Margrét war so schwach, dass es undenkbar war, diese zerstörende Wut gegen sie zu richten. Der Sturm, der in Lóa tobte, trübte ihren Blick und wirbelte einen Geschmack von bitterer, salziger Erde in ihrem Mund auf.
    Die Zeit kroch voran, aber trotzdem war es plötzlich vier
Uhr, und Lóas Lider sanken wie schweres Schleifpapier. Sie stand auf, um sich einen Moment aufs Sofa zu legen, aber die Puppe war im Weg, und Lóa wagte es nicht, sie zu bewegen. Noch weniger wagte sie es, sich in ihr eigenes Bett zu legen. Sich wirkliche Ruhe zu gönnen käme einer Resignation und Vernachlässigung von Margrét gleich.
    Im Margréts Zimmer lag Sveinn mit der Stirn und einem Bein dicht an der Wand, umfasste die Schlinge mit seinem Arm und schnarchte leise. Er würde sich noch nicht mal rühren, wenn sie sich über ihn beugen und lauthals die Nationalhymne anstimmen würde. Die meisten Männer schienen so tief schlafen zu können, und Lóa beneidete ihn darum. Ihr Exmann behauptete immer, er schlafe so fest, weil er ein reines Gewissen hätte. Wenn das

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