Der Schoepfer
war. Er hatte nie vorgehabt, von der Güte und Gnade einer Person abhängig zu sein, die ihn verachtete und ihm den Tod wünschte.
Sveinn versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen, konnte es aber nicht. Er hätte sich besser gefühlt, wenn sie irgendwelche Anzeichen von Verwirrtheit gezeigt hätte, und sei es auch nur
leichte Nervosität, Zuckungen im Gesicht, unterdrückte Aggressionen beim Sprechen oder im Verhalten. Es verunsicherte ihn, dass sie sich so normal verhielt, obwohl sie im Haus eines Fremden einschlief, ihn bedrohte, bestahl und verfolgte. Als wäre sie nur in ihrer Freizeit durchgeknallt. Eine Sonntagsverrückte. Unterdrückter Wahnsinn war gefährlicher als offener – galt das nicht als erwiesen?
Natürlich konnte er Kjartan oder Lárus anrufen und sie bitten, ihn abzuholen. Aber er konnte Lárus’ Nähe nicht ertragen, Kjartan war höchstens eine oder zwei Stunden auszuhalten, und Sveinn traute sich nicht zu, alleine zu sein, solange er nicht arbeiten konnte.
Irgendwann hatte er mal davon gehört, manche Menschen hätten einen Zufluchtsort in ihrem Kopf, einen friedlichen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, wenn sie allein und untätig waren. Er verstand nicht, was damit gemeint war. Er hatte keinen solchen Zufluchtsort, und Untätigkeit war für ihn so ähnlich wie Kälte oder Hunger. Etwas, dem man so schnell wie möglich Abhilfe verschaffen musste. Langeweile war für ihn ein schlimmeres Los als der Tod.
Lóa hatte sich weggedreht, den Telefonhörer am Ohr. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so spät noch anrufe«, sagte sie. »Hier ist Lóa, Margréts Mutter. Könnte ich Agla Steinunn mal kurz sprechen?«
Sveinns Blick fiel auf einen Stapel Wissenschaftsmagazine in einem Korb auf dem Fußboden, er nahm das oberste vom Stapel und ging damit in die Küche, wo er sich ein Sandwich zu Gulaschresten und Rotkohl machte. Er aß und las mehrere Artikel über die Oberfläche des Mars, Grabräuber in Südamerika und ein neues Medikament, das die Konzentration und das Erinnerungsvermögen schärfen sollte.
Im Wohnzimmer verschmolz Lóas Stimme mit dem Summen des Kühlschranks und dem leisen Ploppen im Spülbecken, wenn der Wasserhahn tropfte. Nur einmal fluchte sie laut, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall und dumpfem Klappern. Da schloss er die Augen und suchte mit Händen und Füßen nach einem festen Halt, einem friedlichen Zufluchtsort oder einfach nur nach etwas, das das Gefühl, nichts zu wissen und nichts beeinflussen zu können, dämpfen würde.
XII
Montag bis Dienstagmorgen
Als sich Ína endlich damit abgefunden hatte, mit zu ihrer Oma zu fahren, und Björg zur Arbeit gegangen war, brachen Wut und Entsetzen mit einer derartigen Wucht über Lóa herein, dass sie überhaupt nicht mehr klar denken konnte. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, indem sie durch die Wohnung lief, kreuz und quer durchs Wohnzimmer, in die Küche und wieder zurück, aber das Tapsen der Hausschuhe quälte sie, und die Wohnung, die sie vorher eingeengt hatte, wirkte jetzt furchtbar offen und weit. Sie war nicht der Schutzraum, den Lóa sich in ihrer Einfalt und ihrem trügerischen Sicherheitsgefühl vorgestellt hatte. Menschen und Dinge schlüpften hinaus und hinein, ohne dass sie irgendeinen Einfluss darauf hatte.
Doch über allem thronte etwas Ruhiges in ihrem Inneren, eine vernünftige Macht, die sie daran erinnerte, sich nicht zu verlieren, nicht zu versagen, und sie kam auf die Idee, im Wohnbereich die Vorhänge zuzuziehen und Kerzen anzuzünden, in der Hoffnung, dass das einen beruhigenden Einfluss auf den Geist hätte.
Das Telefon klingelte, und Lóa nahm es zitternd aus dem Ladegerät.
»Wie geht es dir«, fragte Björg.
»Ich habe das Gefühl, als würde jemand auf meinen Eingeweiden rumtrampeln«, dachte Lóa, antwortete aber: »Ich halte mich einigermaßen wacker.«
»Hier ist tierisch viel zu tun, aber wenn du heute Nacht nicht allein sein willst, melde ich mich krank und komme zu dir …«
»Das ist nicht nötig«, entgegnete Lóa. »Leg dich morgen früh nach der Schicht hin und ruf mich einfach an, wenn du wach wirst.«
»Bist du dir sicher?«
»Klar.«
»Ist er noch bei dir?«, flüsterte Björg.
Lóa schaute zu Sveinn, der im flackernden Kerzenschein dalag, mit dem Kopf auf dem Arm der Puppe, leicht geöffnetem Mund, schrägem, entspanntem Kiefer, und regelmäßig nach Luft schnappte, als sehe er im Traum etwas Schreckliches. »Er schläft immer noch. Glaubst du, dass
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