Der Schoepfer
und wütend geklungen hatte und jetzt zaghaft, fast entschuldigend. Vielleicht war er auch nur feige und konnte ihr nicht in die Augen schauen, weil er sich schämte, Zeuge ihres gestrigen Verhaltens geworden zu sein.
»Ich fahre gleich nach Akranes, um eine Frau zu besuchen, die ich letztens schon treffen wollte, als ich vor deinem Haus liegengeblieben bin«, antwortete sie. »Du kannst mitkommen, wenn du willst. Ich helfe dir mit der Puppe.«
Sie hatte den Plan nicht zu Ende gedacht, aber als sie hörte, wie sie ihn in Worte fasste, wusste sie, dass dies das Einzige war,
das sie tun konnte: die Dinge ihre Farbe wechseln lassen, anstatt hinter der Dornenhecke zu verharren, ihre eigenen puppenhaften Tugenden aufzulisten und leise zu fragen: »Warum ich?«
Die Fahrt nach Akranes fühlte sich länger an als in ihrer Erinnerung, und es war, als spanne sich ein Gummiband um Lóas Brust, je kleiner die Hauptstadt im Rückspiegel wurde. Sie hatte Björg angerufen und sie gebeten, bei ihr in der Wohnung zu bleiben, falls Margrét in der Zwischenzeit auftauchen sollte. Björg hatte versprochen, wach zu bleiben, obwohl sie sich unausgeschlafen fühlte, und Margrét notfalls mit Gewalt festzuhalten. Doch der Gedanke, nicht zu Hause zu sein, um die verlorene Tochter in Empfang zu nehmen, ließ den Asphalt unter den Autoreifen zäh wirken, die Esja tragisch und bedrohlich werden und eine weiße Wolkenbank wie einen Tsunami aus dem Meer ragen. Die Wellen hatten etwas Unheimliches – sie rührten an etwas in Lóas Innerem, das man besser nicht verletzte. Die ganze Zeit versuchte sie, sich einzureden, dass sie nicht unüberlegt und überstürzt handelte, sondern einen triftigen Grund für ihr Vorgehen hatte. Wenn jemand etwas über Margréts Aufenthaltsort wusste, dann war es Marta. Diese alte, sanfte Eigenbrötlerin, der Margrét mehr vertraut hatte als ihrer eigenen Mutter.
Lóa schaltete das Radio ein, lauschte den Todesmeldungen und Beerdigungsankündigungen, und die ernste Stimme des Sprechers schien ihr zu versichern, dass sie die ganze Zeit recht gehabt hatte – das Leben war das Opfer und der Tod sein Henker. Zugleich spürte sie jedoch den saugenden Strudel, der Margrét lockte und faszinierte: den Trost des Todes, seine heilende Kraft und die Befreiung aus dem banalen Leid des Alltags.
Dann folgten die Kurznachrichten, stark geprägt vom soeben erwähnten Leid des Alltags, und anschließend eine Suchmeldung nach Margrét: Die Polizei Reykjavík sucht ein sechzehnjähriges Mädchen. Sie ist 1,74 Meter groß, sehr schlank und hat blonde, schulterlange Haare. Als sie zuletzt gesehen wurde, trug sie Jeans und ein rotes, langärmeliges T-Shirt mit dem Motiv von einem gehörnten Schaf mit der Aufschrift: BE KIND.
Der Dienststellenleiter hatte Lóa angerufen, als sie gerade das Haus verlassen wollte, und ihr die Beschreibung vorgelesen. Er klang so, als täte es ihm leid, Lóas Besorgnis anfangs heruntergespielt zu haben, wiederholte aber trotzdem mehrmals, dass sie fast immer gute Erfolge bei Suchmeldungen nach Kindern vorzuweisen hätten, die von zu Hause weggelaufen seien. Dass in all den Jahren, die er schon bei der Polizei sei, alle Jugendlichen, nach denen man offiziell gefahndet hätte, wieder aufgetaucht seien.
Lóa bemühte sich, seinen Worten Glauben zu schenken, doch die Angst wollte nicht von ihr weichen, und in ihrem Bauch rumorte es noch stärker, als sie auf den Parkplatz vor dem Altenheim bog. Sie fürchtete sich davor, auf diese naive Frau zu treffen, der gegenüber sie sich so grundlos unfreundlich verhalten hatte, und ihr zu gestehen, dass sie Margrét genau zu dem Zeitpunkt verloren hatte, als es ihre Pflicht gewesen wäre, wie ein Feldwebel auf sie aufzupassen.
Sveinn, der ihr in seinem Auto folgte, fuhr nicht auf direktem Weg nach Hause, wie sie erwartet hatte, sondern blieb ihr dicht auf den Fersen, parkte seinen Wagen quer auf zwei Parkplätzen, stieg aus und begann, auf dem Rücksitz herumzuwühlen.
Sein Verhalten hatte sich seit gestern verändert. Sein Misstrauen war von Gewissensbissen verdrängt worden, seine Schärfe von entschuldigender Milde und aufdringlicher Hilfsbereitschaft.
Als hätte er im Traum eine Offenbarung gehabt. Wer wusste schon, was in seinem Kopf vorging.
Auf dem Gehweg vor dem Haus blieb sie stehen und zwang sich, ruhig zu atmen. Auf dem Vordersitz des roten Pick-ups saß eine junge, schwarzhaarige Frau in einem karierten Schlafanzug und wartete. Längerfristig
Weitere Kostenlose Bücher