Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Heimatstadt Nischapur, der vor Gott regelrecht warnt. Fünfzig Jahre nachdem er ins Elend geraten ist und seinen Verstand verloren hat, spricht er vor der Moschee einen jungen Menschen an:
– Ja, geh nur rein, geh rasch zum Gebet, dann brockt Er dir die gleiche Suppe ein wie mir. (2/8, 80)
Gegen Gott zu bestehen ist allenfalls im Widerstand möglich. Ein Einsiedler in karger Gegend, der sich, ohne ans Essen zu denken, ausschließlich Gott und dessen Gedenken widmet, bekommt eines Tages Besuch von zwei hungrigen Gästen. Er wartet bis zum Abend, ob nicht irgendwoher Essen zu beschaffen wäre, findet keines und schämt sich vor seinen Gästen. Da wendet er sich zum Himmel und schreit:
– Wenn Du ausgerechnet mir Gäste schickst, dann sorg’ gefälligst auch dafür, daß ich ihnen etwas vorsetzen kann! Wenn Du mir jetzt Essen schickst, will ich es auf sich beruhen lassen, sonst jedoch nehme ich diesen Knüppel und schlage alle Kronleuchter in Deiner Moschee zu Scherben!
Tatsächlich erscheint alsbald ein Diener mit einer reich bestückten Speiseplatte. Die beiden Gäste sind entsetzt über die Reden des Gastgebers. Der knurrt:
– Man muß Gott die Zähne zeigen, alles andere hilft nicht. (22/5, 215f.)
Die Narren klagen Gott an, sie verweigern oder wehren sich, sie befinden sich gar im Krieg mit Gott wie der verrückte Heilige Loqman Sarachsi: Der setzt sich auf ein Steckenpferd und zieht mit einem Stock in der Hand aus der Stadt, um gegen Gott zu kämpfen. Draußen auf dem Feld packt ihn ein gewaltiger Türke, schlägt ihn wund und nimmt ihm den Stock ab. Blutbesudelt und niedergeschlagen kehrt Loqman in die Stadt zurück.
– Na, wie ist der Kampf ausgegangen? spottet einer aus der gaffenden Menge.
– Siehst du nicht mein blutiges Hemd? Gott hat zwar nicht gewagt, es selbst mit mir aufzunehmen, aber dafür hat Er so einen riesigen Türken zu Hilfe gerufen. Gegen den konnte ich natürlich nichts ausrichten. (33/8, 300)
Die Narren
Daß Attar die Motive Hiobs viel öfter als mit den biblischen oder muslimischen Heiligen mit den Narren (diwāneh, magnūn, bi-del) entfaltet, wendet den Aufstand gegen Gott ins Groteske, nimmt ihm aber nur selten die existentielle Not. Kein anderer Dichter der Weltliteratur, nicht einmal Shakespeare dürfte die Narren so ernst genommen haben wie Attar. Die Narren sind weise, deshalb ihr Schmerz, sie erinnern sich an die Geheimnisse, die die übrigen Menschen vergessen haben, wie es Estragon in Becketts «Warten auf Godot» treffend sagt: «Wir werden alle verrückt geboren. Einige bleiben es.»[ 70 ] Der Begriff diwāneh ist bei Attar äußerst weit gefaßt, weiter als in der volkstümlichen und mystischen Literatur, die er rezipiert. Bei Attar ist beinah jeder, der eine Meinung äußert, die von der Durchschnittsmeinung abweicht, ein Heiliger, ein Narr oder beides zugleich. Die Äußerungen der Narren sind bei Attar ungleich dreister, drastischer, ketzerischer und aufrührerischer als in den arabischen Quellen.[ 71 ] Was sie kennzeichnet, definiert sich nicht pathologisch, vielmehr sozial und theologisch: Sie sind frei, weil sie politisch und religiös außerhalb der Gemeinschaft stehen, ähnlich der Figur des Bastards bei Jean-Paul Sartre. Als gehörte es zu ihrem Stand, sprechen sie im Namen der Menschheit Gott Güte und Weisheit ab. Der emanzipatorische Impuls, der sich noch gegen die höchste, die göttliche Autorität, richten kann, mündet auch in gesellschaftlicher Kritik. Es ist der gleiche Impuls, und es ist die gleiche Figur, die ihn verkörpert: der Narr. Mehr als bei allen anderen islamischen Autoren ist er bei Attar von seinen Mitmenschen dadurch unterschieden, daß jener tun und aussprechen darf, was diesen verboten wäre.
– Sei du wahnsinnig und laß den Verstand fahren, sagt Leyla zu Madschnun, dann tut dir keiner etwas, wenn du in mein Dorf kommst. (27/1, 249)
Das Verhältnis der Narren zu Gott ist dadurch gekennzeichnet, daß die Schreiberengel ihre Worten und Taten nicht aufzeichnen und sie sich deshalb nicht verpflichtet fühlen, die Gebote des Korans einzuhalten.
– Da Gott gewünscht hat, daß ich irre bin, darf ich reden, was ich will, entgegnet ein Narr einem Asketen, der ihm Vorhaltungen macht wegen seiner dreisten Reden: Für die Vernünftigen gilt die Verpflichtung zum Gesetz, für die Narren die Ehrung der Liebe. (27/2, 249)
Das Wort «Liebe» ist hier wörtlich zu nehmen: Die Narren sprechen mit Gott wie mit einem sorglosen Vater, einem
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