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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Keller und trank sie aus. In dieser Nacht schlief sie nicht neben Heiner. Sie blieb in ihrem Zimmer und hörte an den Schritten im Haus, dass auch er nicht ins Schlafzimmer ging. Er hat Recht, dachte sie vorm Einschlafen, die Verrückte bin ich – aber nur, weil man an der Seite dieses Mannes nicht normal bleiben kann.
    Als Lena längst schlief, goss sich Heiner in der Küche mehr Whisky ein, als er vertrug. Lena hatte Recht, er war der Verrückte, er war es im wahrsten Sinne des Wortes. So wie man einen Stuhl verrücken kann, saß auch im Inneren seines Kopfes nicht alles dort, wo es bei anderen Menschen saß. Er hörte anders, sah anders, fühlte anders. Warum hatte er darauf bestanden, ihr Hochzeitsalbum bei den Alben zu lassen, in denen es nur Galgen und Gehenkte, Prügelböcke und Schläger, Züge und Schornsteine gab – warum? Warum hatte ihn Lenas Bitte aus der Bahn geworfen? Er trank und rauchte und bekam die Antwort nicht zu fassen. Warum hatte er nicht gesagt: Schatz, unsere Hochzeit ist keine Episode von Auschwitz, natürlich nicht, leg das Album dorthin, wo es dir keine Bauchschmerzen macht, in die Küche, in den Keller, stell es zu den Büchern unter ›A‹ wie Album, zwischen Ahrendt und Anders, sag mir, wo es dir gefällt, zwischen Hesse und Hochhuth, es soll mir Recht sein. Stattdessen war er explodiert. Sie hatte einen Nerv getroffen, aber welchen? Er horchte an ihrer Tür, er drückte den Türgriff nieder, das Zimmer war abgeschlossen.
    Lena?
    In ihrem Zimmer blieb es still.
    Lena, Schatz, mach auf.
    Im Wohnzimmer nahm er den Schreibblock aus dem Sekretär und schrieb Leszek, dem Freund und Kameraden, einen langen Brief nach Polen. Lieber Freund, ich quäle mich in dieser Nacht mit einem Karussell im Kopf. Aufgewühlt schilderte er Leszek den Streit um das Fotoalbum. Was Lena gesagt hatte, was er gesagt hatte. Abgang Lena, Rückzug Heiner – Szenen eines Theaterstücks. Beim Schreiben wurde ihm klar, was ihn umtrieb. Lieber Freund, was bestimmt unser Denken, Fühlen und Handeln stärker – die Gegenwart oder die Vergangenheit? Gibt es Erkenntnisse, Aufsätze, Bücher oder ist das eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss? Du, scheint mir, hast unserer Vergangenheit ein ordentliches Grab geschaufelt, das Du besuchen, pflegen und verlassen kannst. Du pendelst zwischen damals und heute, während ich, um im Bild zu bleiben, mit einem Gespenst im Arm herumlaufe, mit dem ich Menschen erschrecke. Ich finde für dieses Gespenst kein Grab und, um ehrlich zu sein, ich will es auch nicht begraben. Vielleicht sollte ich es hin und wieder verstecken. Oder verkleiden. Mir wird die Vergangenheit immer näher sein als Dir, mein Freund, dennoch möchte ich ihr nicht die Macht einräumen, meine Gegenwart mit Lena zu zerstören.
    Als es hell wurde, lagen zehn eng beschriebene Seiten vor ihm. Erschöpft wickelte er sich in die Wolldecke und schlief angezogen auf dem Sofa ein. Mittags schrieb er Leszeks Anschrift auf den Umschlag, und als er beim Abendspaziergang vor dem Briefkasten stand, zerriss er den Brief.
    Nach einer wortkargen Woche sagte Heiner: Nimm das Album, Schatz und stell es in dein Zimmer, wenn es dir dann besser geht. Nicht nötig, sagte Lena. Sie hatte die Fotos nachmachen lassen und sich ein eigenes Album zusammengeklebt.
    Gesa hatte Recht, ihre Ehe war kompliziert. Das Große Buch, das Monstrum, in dem ihr Mann nachts versank, betrachtete Lena mit einer Mischung aus Scheu, Neugier und Grimm. Das Buch stand nicht, wie die anderen Bücher, eingepasst und eingezwängt und beruhigend bewegungslos im Regal – es wanderte von der Fensterbank auf den Teppich, vom Teppich auf den Couchtisch, von dort auf das Sofa, es hatte auch schon auf Lenas Schaukelstuhl gelegen. Ein Buch so schwer wie Blei. Wenn Heiner wach wurde und den Weg in den Schlaf nicht mehr fand, stand er auf, wickelte sich in den Samtbademantel, schlang die blaue Hollanddecke um die Beine und schlug das Buch an irgendeiner Stelle auf, blätterte und las und verlor sich in den Seiten, bis Lena ihn im Morgengrauen fand. Sein Gesicht war bleich um diese Zeit, aber die Augen hinter der Brille groß und wach. Sein Körper war im Nebel der Zigaretten beinahe unsichtbar. Dann riss Lena die Terrassentür auf, rief verärgert seinen Namen – warum denn verärgert, hatte die Therapeutin einmal gefragt – und sah den grauen Schwaden zu, die sich zögerlich von ihrem Mann ablösten, ging in die Küche und kochte Kaffee. Es macht mich

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