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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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wütend, hatte Lena gesagt, weil ich zusehen muss, wie er sich quält. Sie verfluchte dieses Buch und manchmal auch den Mann, der nicht erklären konnte, warum er sich nachts allein auf diese Reise begab. Eine Frage der Therapeutin hatte Lena nicht beantwortet: Wollen Sie, dass er Sie mitnimmt auf diese Reise?
    Einmal, Heiner war bei Freunden in Wien, hörte Lena nachts ein Geräusch auf der Terrasse. Sie stand auf, stieg leise die Treppe vom Schlafzimmer ins Erdgeschoss hinunter, schaltete das Außenlicht ein und sah, wie zwei dünne Schatten vom Tisch sprangen und sich mit langen Sprüngen entfernten. Es waren Eichhörnchen, die den vergessenen Brotkorb vom Tisch gestoßen hatten und nun flink am Stamm einer Tanne hochfuhren wie kleine, braune Fahrstühle.
    Lena warf einen Blick in die Küche, in der sich schmutziges Geschirr stapelte. Im Bügelzimmer lag krause Wäsche, ihr Arbeitszimmer erinnerte sie an ein Abgabedatum, das sie einhalten musste. Das Wohnzimmer war das Heinerzimmer, in dem sie nachts noch nie alleine war. Er hatte die blaue Decke sorgsam gefaltet ans Fußende des Sofas gelegt und obendrauf das Große Buch. Unentschlossen stand sie im Türrahmen. Still war es hier, stiller als in den anderen Zimmern. Ein Raum, der verlassen worden war. Sie knipste die Stehlampe an und zog die Vorhänge zu. Das Licht schien auf die Abdrücke im Sofa. Der größere war vom sitzenden Heiner, der kleinere vom Kopf, wenn er schlief. So würde das Sofa aussehen, wenn es Heiner nicht mehr gab. Schnell ging Lena ins Badezimmer, zog seinen Bademantel an und ließ sich in die Mitte des Sofas fallen. Um die Knie schlang sie die blaue Decke. So lange sie den Platz warm hielt, konnte ihm nichts passieren. Sie legte sich das Große Buch auf den Schoß. Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945 von Danuta Czech. Sieben Jahre, tausend Seiten. Akribisch zusammengetragene Fakten aus zweitausend Tagen. Sie blätterte. Daten, Namen, karge Sätze, graue Fotos, nüchterne Bildunterschriften: Auf dem Weg ins Krematorium. Selektion. Rampe. Aufnahmegebäude Stammlager. Waldkrematorium. Häftlinge bei der Arbeit. Zug mit Deportierten auf Gleis 3. Zahlen. Daten. Namen. Die ganze Geschichte von der Idee bis zur Ausführung. 22. August 1939, der Tag, an dem Hitler zu den Oberbefehlshabern der Wehrmacht sagte: Unsere Stärke ist unsere Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingis Chan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewußt und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatengründer …
    Lena las sich fest. Nächtliche Streifzüge durch eine mörderische Datenerfassung, warum tat er sich das an? Er schrie, wenn er vom Lager träumte. Vielleicht war es so: Wenn er wach durch Auschwitz reiste, blieb er Herr seiner Träume, bestimmte mit offenen Augen die Wege, die er ging, war nicht dem Alptraum ausgeliefert, der ihn ohne Distanz im Schlaf packte. Lena schlug das Jahr 1942 auf, das Jahr, in dem Heiner nach Auschwitz kam. Zahlen, Daten, Fakten, Tag für Tag festgehalten, was geschah. Wer eingeliefert wurde. Wer welche Nummer bekam. Wer floh. Wer erschossen wurde zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1942. Sie las:
    Am 6. Januar traf ein Sammeltransport ein, am 8. Januar wurden die Nummern 25.272 bis 25.332 an sechzig Häftlinge vergeben. Am 15. Januar schickte die Gestapo aus Prag 135 Häftlinge. Am 16. Januar erschoss der SS-Mann Stadler, der auf dem Turm L Dienst hatte, um 16:50 Uhr einen russischen Kriegsgefangenen. Am 17. Januar verübte der polnische Häftling Franciszek Batek im Bunker von Block 11 Selbstmord.
    Waren seine nächtlichen Reisen Gedenkstunden für die toten Kameraden? Entschuldigte er sich bei ihnen für das eigene Überleben? Zwischen dem 25. und dem 29. Januar starben infolge von Hunger, schwerer Arbeit, Krankheiten und Misshandlungen 266 Häftlinge. Im Februar kamen Häftlinge aus Krakau, Brünn und Warschau. Am 15. Februar 1942 kam der erste Transport mit Juden aus Beuthen. Sie wurden auf der Rampe … das Gepäck mussten sie … sie wurden in die Gaskammer … und dort mit Zyklon B … die Direktion der Deutschen Reichsbahn klagte eine offene Rechnung für 143.000 Beförderte ein. Zwischen dem 5. und 11. Mai 1942 kamen in der ersten Gaskammer 5200 polnische Juden aus den Ghettos Dombrowa, Bendsburg, Warthenau und Gleiwitz um.
    Warum tat er sich das an? Bestrafte er sich für das Glück, den Zufall, die Schlauheit, die Kraft,

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