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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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überlebt zu haben?
    Am 11. September 1942 wurden die Nummern 63.246 bis 63.393 an 148 männliche Häftlinge vergeben. Den mit der Nummer 63.387 kannte Lena. Das war Heiner.
    Ab dem 12. September kamen die Transporte täglich.
    Am 24. Dezember steckten weibliche Häftlinge aus Polen Kerzen auf einen Fichtenzweig, sangen Weihnachtslieder und wünschten sich die Freiheit.
    Lena schlug das Buch zu. Bis zum allerletzten Eintrag am 27. Januar 1945 waren es noch 696 Seiten. Sie kochte starken Kaffee, füllte die Thermoskanne bis zum Rand und setzte sich in die Hollywoodschaukel auf der Terrasse, Heiners Sommersofa. Konnte es sein, dass er sich abends in dieses Buch versenkte, weil es ihn morgens ins Leben entließ? Konnte es sein, dass er nicht niedergeschlagen, sondern froh aus den Seiten auftauchte, weil er dem, was er las, entkommen war?
    Der Wald war eine schwarze Wand. Kein Vogel schrie, kein Ast knackte unter dem Lauf eines Rehs. Nachts gab es im Wald eine Melodie, die man am Tag nicht hören konnte. Sie bestand aus ein bisschen Wind, ein paar Tannenzapfen, die auf den Waldboden fielen wie schwere Tropfen, dem Flügelschlag einer Eule und dem gleichmäßigen Rascheln hungriger Ameisenheere auf der Suche nach Spinnen, Fliegen und Raupen. Zwei Mal hatten sie dieses Haus besichtigt und unschlüssig auf der Terrasse gestanden. Beim dritten Besuch war der Hirsch aus dem Wald getreten und Heiner war blass geworden. Sie hatte seine Stimme im Ohr, die Betonung, mit der er sagte: Schau Lena, wenn wir dann hier sitzen, erzähle ich dir von der unheimlichsten Nacht meines Lebens. Sie wiegte sich in der Hollywoodschaukel und trank langsam den heißen Kaffee ohne Zucker und Milch, wie ihn Heiner trank.
    Er war nicht von den Russen aus Auschwitz befreit worden. Man hatte ihn auf einen Todesmarsch an die slowakisch-ungarische Grenze geschickt. Von dort hatte er sich vier Monate vor dem Ende des Krieges nach Österreich abgesetzt. Er schloss sich den Partisanen an, dort traf er Martha wieder. Sie waren elf Männer und vier Frauen, sie überfielen Polizeistationen, raubten Waffen und Munition, sie jagten Nazis und sperrten sie ein. Ihr Gefängnis war eine Höhle in den Bergen, ein feuchtes Labyrinth, ein stinkender Stall für Schafe und Ziegen. Und dann kam die Nacht, die er im ganzen Leben nicht vergessen konnte, die unheimlichste Nacht seines Lebens.
    Er stand vor der Höhle, allein, in jeder Hosentasche eine Pistole. Die Genossen hatten ihn zum Wächter gemacht und fuhren den Amerikanern entgegen, denen sie die Gefangenen übergeben wollten. Stell dir das vor, hatte Heiner an einem lauen Abend auf der Terrasse gesagt, als es im Wald wieder einmal knackte, ein Keller voller Nazis – und ich.
    Es waren Männer, die zur Gestapo in Wien gehörten und sich absetzen wollten. Lettische, estnische und ungarische Faschisten, die auf der Seite der Nazis gekämpft hatten. Über hundert Männer. Ortsgruppenleiter und ein Bürgermeister, der seine Gefangenen gezwungen hatte, auf allen Vieren aus Näpfen zu fressen wie Hunde. Ihr dickster Fisch war Kaltenbrunner, ein Österreicher, den Heiner ein übles Kaliber nannte. Promovierter Jurist. Chef des Sicherheitsdienstes, Vorgesetzter von Eichmann, verantwortlich für die Deportationen der Juden aus allen Winkeln Europas. Eine feige Memme, der in Nürnberg die eigenen Unterschriften leugnete. Das musst du dir vorstellen, hatte Heiner gesagt, diese Kreatur war mein Gefangener!
    Sie hatten den Eingang der Höhle mit einer Tür aus schweren Balken verrammelt – aber er war sicher, dass diese Tür ihm ins Kreuz gefallen wäre, hätten sich die Gefangenen gemeinsam dagegen geworfen. In dieser Nacht schlugen seine Zähne vor Angst mit einer Wucht aufeinander, dass er sich wunderte, warum sie nicht zerbrachen. Es gab in seinem Leben keine Nacht, die schlimmer war. Sie war schwarz, kalt und ohne Sterne. Ein einziges Mal schob sich der Mond durch die Wolken und was er sah, jagte ihm mehr Angst ein als die Nazis in seinem Rücken. Da stand, in kalkweißes Licht getaucht, keine zehn Meter entfernt, ein Hirsch mit mächtigem Geweih. Ein Bote aus einer anderen Welt. Reglos, den Kopf erhoben, sah er ihn an, als wolle er ihm etwas mitteilen – aber was? Heiner glaubte nicht an fremde Welten, die Welt, der er entkommen war, war fremd genug. Der Hirsch war unheimlich, dennoch nur ein Tier im Mondlicht und also, redete er sich ein, ein Schreck ohne Bedeutung.
    Die Wolken schoben sich vor den Mond, die Nacht

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