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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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wurde wieder schwarz und Heiner konzentrierte sich auf das Rascheln und Rumoren im Felsengefängnis, das sich anhörte, als hausten dort Nattern und Mäuse. Die Nazis winselten um Brot und Zigaretten. Sie versprachen ihm den Schatz im Silbersee, wenn er sie freiließe. Weißt du, wie oft ich im Lager von Rache geträumt habe, fragte er Lena, weißt du das? Jede Nacht glühendheißer Hass. Erschießen war ein viel zu schneller Tod. Ihre Qual sollte ohne Ende sein. Todesangst sollten sie spüren. Er wollte sie in Stücke hacken. Oder aufhängen und zuschauen, wie sie um ihr Leben bettelten. Keiner von denen hätte den Anstand, mit Würde zu sterben wie die Männer und Frauen, deren Tod am Galgen er ansehen musste. Und nun stand er mit zwei Pistolen in der Hosentasche vor einem Keller mit über hundert Naziverbrechern und musste sich am Morgen eingestehen, dass er nicht in der Lage war, Menschen Gewalt anzutun. Er hätte Kaltenbrunner nicht einmal ohrfeigen können. Er verweigerte den bettelnden Nazis die Zigaretten, er rauchte sie selber, es waren mehr als hundert in einer Nacht. Er blies den Rauch seiner Zigaretten durch die Ritzen der Balken, mehr tat er ihnen nicht an.
    Als er Martha später von dem Hirsch erzählte, bekreuzigte sie sich: Dir ist der liebe Gott erschienen! Er lachte sie aus. Der liebe Gott, wer soll das sein? Aber Martha, die Kommunistin, glaubte an die Legende von Placidus, dem Jäger und Heerführer, dem auf der Jagd ein stolzer Hirsch erschienen war. Ein großes, prachtvolles Tier, wie das, was Heiner gesehen hatte. Placidus hob das Gewehr aber als er sah, dass der Hirsch im Geweih den gekreuzigten Jesus trug, ließ er erschrocken die Waffe fallen. Placidus, sprach der Hirsch, warum verfolgst du mich? Ich bin Christus, der den Himmel und die Erde erschaffen hat. Placidus preschte nach Hause, verschwieg seiner Frau die Begegnung – sie aber fuhr in derselben Nacht schreiend aus dem Schlaf – auch ihr war der Jesus im Hirschgeweih erschienen. Am nächsten Morgen ließ Placidus sich, seine Frau und seine Söhne taufen und trug fortan den Namen Eustachius. Der Hirsch hatte dem Paar schwere Prüfungen vorausgesagt – und alle trafen ein. Eine Seuche tötete seine Knechte, Mägde und Tiere. Räuber plünderten sein Haus, die Familie wurde auseinandergerissen, fand sich wieder und wurde von Kaiser Hadrian zu Tode gequält. Martha war Partisanin, Atheistin, trotzdem: Der Hirsch, der ihrem Verlobten in der Nacht erschienen war, war Gottes Sohn, der ihnen Leid und schwere Prüfungen verhieß. Heiner hatte sie ausgelacht. Für ihn gehörte das Kreuz im Geweih zu einem Kräuterlikör, den sie 1934, als Herrmann Göring Reichsjägermeister wurde, Göring-Schnaps nannten.
    Es war Februar 1945. Gegen acht Uhr ging die Sonne auf. Ein Ball, dunkelrot wie Feuer, als würde die Erde von einem großen Ofen verschluckt. Langsam wurden seine Knochen warm, dann kamen die Genossen. Er sah sie auf der schmalen Straße, die aus dem Tal zur Höhle führte. Sie brachten Amerikaner mit, die ihnen Zigaretten, Kaugummi und Apfelsinen schenkten und die Gefangenen auf ihre Lastwagen luden. Ein neuer Tag begann und eine neue Zeit, Heiners Zeit, der Anfang einer besseren Welt. Was wir doch für Spinner waren, sagte er damals auf der Terrasse zu Lena, als es im Unterholz knackte und er an den Hirsch dachte.
    Lena, seit wann schläfst du draußen?
    Lena schlug die Augen auf. Gesa stand mit der Brötchentüte vor der Hollywoodschaukel. Frühstück, sagte sie – ist alles in Ordnung?
    Sag, Gesa, weißt du, wie viel Vergangenheit ein Mensch erträgt?

II Ihre Organe, sagte der Arzt, sind älter als Sie.
    Heiner lachte. Mag sein. Die hatten es nicht immer leicht mit mir.
    Der Arzt sah ihn streng an. Ihr Herz ist schwach, die Nieren arbeiten nicht, wie sie sollten, die Lunge pfeift, der Kreislauf ist instabil und wie Ihr Husten klingt, wissen Sie selber. Sie müssen sich schonen, Herr Rosseck.
    Schonen? Für wen? Für wann?
    Für später, sagte der Arzt, oder wollen Sie nicht mehr lange leben?
    Heiner lächelte. Später ist ein vages Versprechen.
    Der Arzt war besorgt. Ich möchte Sie zur Kur schicken, ich kenne ein gutes Haus an der Nordsee, bekannt durch Sonderbehandlungen für Asthmatiker.
    Heiner mochte den Arzt. Er war ein freundlicher, geduldiger Mann mit Zeit für Patienten. Wann sind Sie geboren, fragte Heiner.
    Am 1. November 1942 – warum?
    Sie waren zehn Tage auf der Welt, als ich das Wort Sonderbehandlung gelernt habe.

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