Der Schrecken verliert sich vor Ort
sich nicht aufhalten ließ. Stur sah er aus, als er sagte: Ich muss hin. Lena sagte: Gut, fahren wir.
Am Abend vor der Abfahrt waren sie aufgeregt wie Kinder vor der Bescherung. Heiner besprenkelte die Autoreifen mit Wodka, goss Wodka auf die Kühlerhaube, bespritzte die Plane, die Bank, auf der sie sitzen würden, das Lenkrad, den Schaltknüppel, vergaß nicht einmal den Ersatzreifen. Ein Tröpfchen für die Kupplung, ein Tröpfchen für Gas und Bremse. Bevor die Flasche leer war, gab Lena dem Lastwagen einen Namen. ›Czerwony‹, Roter. Sie hatten einen ganzen Tag zum Packen gebraucht.
Ihre Arme waren schwer wie Kartoffelsäcke, im Kreuz steckten tausend Nadeln. Sie dachten, sie würden in den Schlaf sinken wie Steine im Meer, aber sobald sie die Augen schlossen, tobte ein verrücktes Ballett aus Milchpulver und Kaffee, Tee, Schokolade und Kakao durch ihre Köpfe. Dosen mit Erbsen und Karotten reihten sich ein, Bohnen, Linsen und Fertigsuppen. Sie wurden von Reis und Zucker und Nudeln überfallen, von Dosenfisch, Scheuermitteln und Spüli, Seifen und Cremedosen, Klopapier und Glühbirnen. Wenn sie die Augen aufrissen, zog sich das Ballett erschreckt zurück. Stehen wir auf, sagte Heiner, es gibt Schlimmeres als eine Nacht ohne Schlaf.
Er saß am Steuer, Lena gab mit der Karte auf den Knien die Richtung an: Friedberg, Alsfeld, Bad Hersfeld, Herleshausen – dann packte sie den Fresskorb aus. Mit der gleichen Logistik, mit der sie eingekauft, Waren gestapelt und Pakete gepackt hatte, hatte sie die Wegzehrung berechnet. Sie teilte die Dauer der Fahrt – mit Wartezeiten an den Grenzen – durch die Größe ihres Hungers und war auf zwanzig Wurstbrote, zwölf Käsestullen und zehn harte Eier gekommen. Sie hatte ihren Durst berechnet und Heiners Kaffeesucht. In der Ablage steckten zwei Stangen Zigaretten.
Wo hast du LKW fahren gelernt?
Im Krieg.
Und wo lerne ich?
Bei mir, sagte Heiner.
Wenn Menschen für bestimmte Zeiten besonders begabt sind, dann war Heiners Zeit der Umbruch, die Gefahr, die Kraft und Mut verlangte, ihn vom Sofa trieb und seine Phantasie anregte. Wenn er vor der eigenen Haustür nicht gebraucht wurde, fuhr er dorthin, wo es brodelte.
Vier Stunden bis Herleshausen. Die westdeutschen Grenzer waren freundlich. Sie prüften Ausweise und Ausfuhrpapiere. Das Paar im Lastwagen wollte nicht in die DDR, ihr Ziel war Polen, das interessierte sie nicht. Dafür war an der Grenze zur DDR die Reise erst einmal zu Ende. Zwanzig LKW standen vor ihnen und sie sahen zu, wie die Grenzer Ladung für Ladung auseinander nahmen. Nach fünf Stunden kannten sie jede Bewegung. Die kurze, herrische Geste in Richtung Ladefläche hieß: Aufmachen. Die Grenzer schoben ihre Spiegel unter die Wagen, als könne einer den Wunsch haben, sich in ihr Land zu schmuggeln. Sie bellten Befehle und genossen die Ohnmacht der Kontrollierten. Heiner hasste Grenzen und Grenzer.
Aufmachen. Er schnürte die Plane auf.
Anzahl der Pakete?
Dreihundert.
Inhalt?
Tee, Kaffee und Kakao, Erbsen, Bohnen, Linsen, Zucker und Schokolade, Salz. Lena leierte mit treuherzigem Gesicht den Inhalt herunter, genüsslich zählte sie die Artikel auf, die dem jungen Grenzer, so hoffte sie, peinlich waren: Damenbinden, Tampons, Präservative.
Er zeigte auf ein Paket in der obersten Reihe: Aufmachen. Er wollte Pakete in der zweiten Reihe links sehen, er ließ sie einen Sack mit Kleidung ausleeren. Er wollte den Inhalt eines Pakets aus der fünften Reihe rechts sehen. Wissen Sie, sagte Heiner, wir fahren nach Polen, wir besuchen dort Menschen, die wie ich …
Der Grenzer drehte sich um und ging. Weil das, was er im Weggehen sagte, klang wie: Einpacken, brachten sie das Chaos auf der Ladefläche in Ordnung. Lena setzte sich hinters Steuer, zog die Wagentür zu, der Schlagbaum hob sich, sie waren erlöst. Vorsichtig gewöhnte sie sich an den Siebeneinhalbtonner. Vergiss nicht, wie lang er ist, sagte Heiner, sonst rasierst du in den Kurven Bäume und Laternen. Auf den schlechten Straßen Richtung Görlitz gestand Lena, hinter jedes Etikett einer Erbsen-Bohnen-Linsendose Dollarscheine geklebt zu haben. Heiners Gesicht wurde hart. Du gefährdest die Reise, sagte er streng. Er sah auf die Straße, er schwieg. Er rauchte, sein Gesicht war böse. Drei Zigarettenlängen brauchte er, um zu begreifen, was Lena für seine Freunde getan hatte.
Dollars hinter den Etiketten – wirklich? Lena, sagte er, willkommen bei den Schmugglern. Auch er hatte Geld in den gut
Weitere Kostenlose Bücher