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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Seither gehe ich ihm großräumig aus dem Weg.
    Soll sich der Arzt um die Organe sorgen, dem Rest von Heiner ging es gut. Er hatte keine Alpträume mehr, er wachte früh auf, fuhr mit dem Motorroller zum Bäcker – zwei Mohn, zwei Kümmel – und weckte Lena zum Frühstück. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und formulierte, als hätte er nie etwas anderes getan, Spendenaufrufe. Er gab Interviews, erzählte eloquent, seine angenehm tiefe Stimme, die man auch im Radio hören konnte, prägte sich ein. Es gab in Auschwitz keine Vögel. Er sprach auf Veranstaltungen. In meinem Transport waren 1860 Menschen, am Schluss waren wir nur noch vier. Reporter, die ihn zuhause besuchten, schockierte er mit Nonchalance. Nehmen Sie von Lenas Pflaumenkuchen, Essen und Auschwitz gehören zusammen. Schauen Sie, der Sand in diesem Glas, was mag das sein? Der Stempel in meinem Pass: RU. Wissen Sie, was das heißt? Er besuchte Warenhäuser, Supermärkte, Arztpraxen und Apotheken, gründete mit Lena einen Verein, den sie AUF nannte, Auschwitzer und ihre Freunde. Vor der Haustür stand ein knallroter Lastwagen, die Spende eines Spediteurs, der Heiner im Fernsehen gesehen hatte.
    Den Keller verwandelte er in ein Lager, nach vier Monaten hatten sie dreihundert Pakete gepackt und fünfzig Kleidersäcke geschnürt. Die Droge, die ihn jünger machte als seine Organe, hieß Kriegsrecht in Polen. Siebenhunderttausend Menschen im Streik. In den Betrieben, den Kohlengruben, auf den Werften brodelte der Zorn über neue Preiserhöhungen, auf der Straße knieten Menschen vor Schildern, auf denen ›Hunger‹ stand. Solidarnosc hatte neun Millionen Mitglieder und es wurden täglich mehr. General Jaruzelski drohte dem Volk mit dem Einmarsch der Russen, die Polen warnten den großen Nachbarn auf Flugblättern: Iwan, bleib wo du bist, diesen Krieg gewinnst du nicht. Sie hatten einen mächtigen Beschützer. Karol Wojtyla, der ein polnischer Bergarbeiter gewesen war, besuchte seine polnische Heimat als Papst Johannes Paul II. Wo immer er zu seinen Landsleuten sprach, in Kirchen, auf Marktplätzen, in großen Städten und kleinen Orten, jubelten die Massen: Sto lat! Sto lat! Hundert Jahre sollst du leben. Sie riefen: Bleib bei uns! Bleib hier! Der Papst predigte auf dem Siegesplatz in Warschau und jedes seiner Worte war eine Botschaft. Herr, es möge Dein Geist hernieder fahren und das Angesicht der Erde ändern – der Papst machte eine lange Pause, bevor er den Satz beendete – und dieses Landes. Die Menschen tobten. Sto lat, sto lat, hilf uns, bleib hier. Die Welt hält den Atem an, schrieben die Zeitungen, ruft der Papst zur Revolution auf? Zwei Jahre später, am Sonntag, den 13. Dezember 1981, verhängte der polnische Regierungschef das Kriegsrecht über Polen. Heiner saß vor dem Fernsehapparat. Er sprang auf. Lena, rief er, die Bilder kenne ich, so beginnt ein Bürgerkrieg. Einen Tag zuvor, am Samstag, den 12. Dezember 1981, kurz vor Mitternacht, hatte General Jaruzelski 70.000 Soldaten, 30.000 Polizisten und zweitausend Panzer an ihre Einsatzorte befohlen. Das Militär besetzte Radio- und Fernsehsender, vor den Mikrophonen saßen Uniformierte. Jaruzelskis Rede wurde als Dauerschleife wiederholt, Tag und Nacht. Bürgerinnen und Bürger der Volksrepublik Polen, ich wende mich heute als Soldat und als Regierungschef an Euch. Unser Heimatland steht vor dem Abgrund. Das Chaos und der Sittenverfall haben ein katastrophales Ausmaß erreicht. Ohne Pause hämmerte die Stimme des Generals auf die Polen ein: Die Nation ist am Rande des psychischen Zusammenbruchs. Genug ist genug. Man muss den Randalierern die Hände fesseln, ehe sie die Heimat in einen Bruderkrieg stürzen. Der Staatsrat hat heute um Mitternacht das Kriegsrecht verhängt. Für Heiner war der General eine kalte Fratze in Uniform. Die Polen lernten, die Zomos zu fürchten, die wüsteste Schlägertruppe der Miliz. An den Häuserwänden stand: Zomo = Gestapo. Polen hatte nichts vergessen.
    Heiner sah die Freunde vor sich, Leszek und Tante Zofia, Tomasz, Tadeusz, Stanislaw, Mietek und den ›Adler‹, all die Lagerkameraden, zu denen sein Gefühl tiefer war als zu seiner Tochter, seiner Mutter, seinen Schwestern. Es fehlte Kleidung in Polen, es fehlten Medikamente, es gab keine Butter, kein Öl, keinen Kaffee, keinen Tee. Die Läden waren leer wie damals in Wien, als er in Hauseingängen saß und rote Hungerkreise sah. Lena entdeckte im Gesicht ihres Mannes den radikalen Jungen aus Wien, der

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