Der Schrecken verliert sich vor Ort
nervöser Raucher, er genießt jeden Zug, als sei es der allerletzte. Den Rauch zieht er tief in den Magen hinein, hält ihn dort fest und lässt ihn langsam wieder frei. Schau Lena, Arbeitskommando Straßenbau, Überlebenschance vierzehn Tage. Mit Glück drei Wochen.
An seinem ersten ›Arbeitstag‹ schob er sechzehn Stunden eine Schubkarre mit Sand über das Gelände. Hinter ihm schrie der Kapo. Los, los, faule Sau, dalli, dalli. Er musste die Karre übervoll mit nassem, schwerem Sand beladen. Wozu das Gehetze, flüsterte er dem Nachbarn zu, die haben doch tausend Jahre Zeit. Am ersten Tag konnte er noch Scherze machen. Die Mittagssuppe ließ er stehen, obwohl ihm der Hunger den Magen auffraß. Die Suppe war faul, sie stank nach Kohl und Kot.
Schau Lena, der Kapo beim Kommando Straßenbau – ich weiß nicht, was das für ein Mensch war. Jupp hieß er. Jupp Krankemann aus Köln, wir nannten ihn ›das fette Schwein‹. Er war ein Koloss. Jupp kam als einfacher Dieb nach Auschwitz, dann wurde er Kapo und erledigte ohne Not die Arbeit der SS, er erschlug am Tag zehn, manchmal fünfzehn Menschen. Polen, Russen, Deutsche, Juden, Christen – egal, auf die Zahl kam es an. Nie unter zehn. Jupp schlich sich von hinten an, hob den Spaten über den Kopf, drehte ihn senkrecht und schlug zu. Heiner springt auf, hebt die Arme, umklammert den unsichtbaren Spatenstiel, schwingt ihn über den Kopf, schleicht gekrümmt ein paar Schritte vorwärts, schnellt hoch und lässt die Arme niedersausen. Siehst du das, Lena?
Hör auf, mir wird schlecht.
Dann siehst du es! Jupp konnte mit dem Spaten Schädel spalten, seine Technik war perfekt. Er traf die Köpfe genau in der Mitte. Schon am ersten Tag stand er hinter mir und schrie: Warum ist die Karre nicht voll, faule Sau, und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er den Spaten hob … und dann hast du Kraft, weil du leben willst und rennst mit der Karre, auch wenn du glaubst, deine Beine tragen dich keinen Meter mehr.
Sie legt ihren Arm um ihn. Warum quälst du dich so?
Ich glaube nicht, sagt er, dass Jupp aus Freude tötete, es war Gier, er bekam für jeden Toten dessen Brotration. Zehn Tote, zehn Scheiben Brot. Es war auch nicht Hunger, so viel Brot konnte nicht einmal diese fette Sau essen, aber Brot war die Lagerwährung, für Brot gab es alles. Zigaretten, Schmuck, Schokolade, Uhren, was du willst. Das Lager war eine Schule, musst du wissen. Wer nicht blitzschnell lernte, war tot und ich hatte gelernt. Tag eins, Lektion eins: Häftlinge töten Häftlinge. Lektion zwei: Merk dir den Text der Lieder, die gesungen werden, davon hängt dein Leben ab. Lektion drei: Du bist Teil des Systems, ob du willst oder nicht, du gehörst dazu. Tu, was man dir aufträgt, tu es schnell und gut und fall nicht auf. Und schau nie einem von denen direkt in die Augen. Das mögen sie nicht, das kann dein Tod sein.
Seine Stimme, seine Gesten. Er spielt Lager und Lena sieht mehr, als sie möchte. Schau Lena, am Abend trugen sie die Toten auf den Schultern ins Lager. Im Gleichschritt marsch, schrie der Kapo, ein Lied zwo drei: Erika. Sie sangen Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein und das heißt: Eeeerika. Heiß von hunderttausend kleinen Bienelein wird umschwärmt: Eeeerika. Sie grölten, bis sie am Lagertor standen. Denn ihr Herz ist voller Süßigkeit. Zarter Duft entströmt dem Blütenkleid. Vor dem Eingang schrie der Kapo: Arbeitskommando Straßenbau – stopp! Dann kam Kaduk aus der Rapportführerstube, zählte die Lebenden und die Toten, fünfhundert Männer minus fünfzehn Tote waren, wenn niemand geflüchtet war, vierhundertfünfundachtzig Männer. Stimmte die Zahl, war die Arbeit erledigt, dann folgte sein Privatvergnügen. Er schlich durch die singenden Reihen wie ein witterndes Tier. Fixierte die Männer. Kaduk hatte ein unheimliches Gespür für Brot, das nicht aus dem Lager stammte. Es war, als könnte er es riechen. Fremdes Brot ist dein Tod, aber – Lektion vier – du kannst für weniger sterben. Weil einem SS-Mann deine Nase nicht passt, weil du ihn an jemanden erinnerst, den er nicht mag, weil er schlechte Laune hat, weil seine Frau nicht mehr schreibt, weil er auch nicht gern in Auschwitz ist. Reiß die Augen auf, kapier die Struktur, lern die Zeichen lesen. War der Rauch, der sich in Birkenau aus den Schornsteinen in den Himmel kringelte, dünn und weiß, gab es in den Krematorien wenig zu tun. War er schwarz und dick, stell dir lieber gar nichts vor.
Heiner dreht den Kopf zum
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