Der Schrecken verliert sich vor Ort
Lagertor, als stünde dort noch immer Oswald Kaduk. Jeder hatte seine Spezialität, sagt er. Kaduk machte es mit dem Stock. Er schlug den Mann, bei dem er Brot gefunden hatte, zu Boden. Er legte ihm seinen Knüppel über den Kehlkopf, stellte sich mit beiden Beinen darauf und wippte. Kaduk war ein kräftiger Kerl, musst du wissen, so hat er Menschen umgebracht.
Und vierhundertvierundachtzig Männer haben zugeschaut.
Einer war ich, sagt Heiner.
Du hast es aushalten müssen.
Du willst hin springen, du willst ihm den Stock aus der Hand reißen, du willst ihn totschlagen, den Kaduk, du willst schreien, du willst, du willst, du willst – aber willst du sterben? Willst du nicht. Du bist froh, dass du dort nicht liegst. Sein Tod ist dein Leben. Du starrst durch alles hindurch, rührst keine Hand, siehst alles und singst Eeeerika . Dafür schämst du dich dein ganzes Leben.
Du hast ihn nicht ermordet.
Kein Freispruch, Lena. Ich habe zugelassen, dass es geschieht und zugesehen, wie es geschieht. Meine Schuld ist, dass ich lebe.
Nur wer lebt, kann Zeuge sein.
Ach, Lena, um welchen Preis.
Heiner hebt den Kopf. Hörst du, was ich höre?
Ich höre nichts.
Eine Art Wimmern, sagt er, ich schau mal nach. Er überquert die Lagerstraße, er kennt jeden Winkel, er braucht kein Tageslicht und keine Taschenlampe. Er verschwindet zwischen Block neunzehn und zwanzig und lässt auf der Lagerstraße eine kleine graue Zigarettenwolke stehen. Seine Schritte entfernen sich auf dem Schotter, sie werden leiser, dann kann Lena ihn nicht mehr hören. Der Wind ist eingeschlafen. Es ist still. Totenstill. Man muss auf seine Worte achten, die bekommen hier schnell ein neues Gewicht.
Sie wartet fünf Minuten, sie wartet zehn Minuten. Sie traut sich nicht, nach Heiner zu rufen, erst recht nicht, ihn zwischen den dunklen Blocks zu suchen. Um keinen Preis hätte sie sich ohne ihn von der Stelle gerührt. Wenn er nicht zurück kommt, denkt sie, bleibe ich sitzen, bis die Sonne aufgeht. Sie stützt die Arme auf die Knie und bohrt sich die Fäuste in die Augen, um Kapo Jupp und Rapportführer Kaduk von der Netzhaut zu reiben. Sie ist müde und wäre eingeschlafen, hätte sie nicht entfernt ein leises Knirschen gehört, dann Schritte, die sich nähern. Das ist nicht Heiners Gang, er geht schneller, weniger tastend und das Geräusch kommt auch nicht von dort, wo sie ihn aus den Augen verloren hat. Es ist hinter ihr, in ihrem Rücken, dann direkt neben dem Block, vor dem sie sitzt. Ihr schlägt das Herz bis zum Hals. Abrupt dreht sie sich um. Ihre Stimme klingt schrill.
Heiner, bist du das?
Wer sonst?
Er hat eine winzige Katze im Arm, die er im Gehen streichelt. Arme Mieze, sagt er, hat sich verlaufen. Die Katze sperrt ihr kleines Maul auf und gähnt. Heiner, sagt Lena, ich bin vor Angst beinahe gestorben.
Angst, fragt er, wer soll dir hier etwas tun?
Irgendein verrückter Mörder.
Er legt ihr die Katze in den Schoß, sieht sie an wie ein Kind, das Unfug redet und sagt: Hier ist noch nie jemand ermordet worden.
Er horcht dem Satz nach, dann lacht er, wie an diesem Ort noch nie ein Mensch gelacht hat.
Der weißhaarige Freund wohnt seit fünfunddreißig Jahren in einer Stube der ehemaligen SS-Kommandantur. Sechzehn Quadratmeter, Bücher und Akten vom Boden bis zur Decke, mehr Archiv als Wohnzimmer. Auf dem Hocker steht ein Tauchsieder, auf der Kommode ist Platz für zwei Kochplatten. Er räumt einen Stapel Kopien vom Tisch, packt sie auf das Bett und nimmt Tassen und Teller aus einem Schrank, in dem auch Bücher stehen. Er stellt Brot und Butter auf den Tisch und ein Glas Apfelkompott, das er selbst gemacht hat. Lena fragt: Sind die Äpfel von hier?
Warum fragst du?
Nur so.
Die Eier fünf Minuten oder viereinhalb? Die Hühner sind auch von hier, stört dich das?
Zwischen Tadeusz und Heiner liegen 43353 Nummern. Szymanski kam im August 1941 nach Auschwitz, Heiner ein Jahr später im September. Also hatte Tadeusz, den Heiner Tadek nannte, dreizehn Monate länger gelitten, das zählte zwischen den beiden. Wo in einer Nacht zehntausend Menschen umgebracht werden können, sind dreizehn Monate Überleben eine Leistung. Oder ein Wunder. Lena brauchte noch viele Begegnungen mit Heiners Freunden, um das Spiel mit den Nummern zu verstehen, aus denen sich Adel und Hierarchie ergaben. Die ersten dreißig Häftlinge, Nr. 1 bis 30, die am 20. Mai 1940 nach Auschwitz gebracht wurden, waren deutsche Kriminelle. Man nannte sie Funktionshäftlinge, sie
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