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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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ein Dogma: Kosta ist mein Freund. Und ich, sagte Lena, möchte mir nicht vorstellen, dass du bei einem Verhör sein Gefangener bist. Sie schwiegen, begruben das Thema, dann begann der Streit von vorne. Sie hatte nur gesagt. Es war das Wort, das ihn quälte. Nur weil er in Auschwitz war. Nach endlosen Debatten verlor Lena die Geduld. Mein lieber Heiner, sagte sie spitz, ich möchte dich über das Wort, das dich umtreibt, aufklären. Nur ist ein kleines, verbittertes Wörtchen, das es in seinem Leben nicht leicht hat. Es muss sich in Sätze, auch in die, in denen es nicht gebraucht wird, hineindrängeln und sie mit immer neuer Bedeutung versehen. Erstens: Das Nur in meinem Satz ist im Sinne von ›obwohl‹ zu verstehen und macht das Leiden deines Freundes nicht kleiner. Was ich sagen wollte, war: Obwohl er damals in Auschwitz war, muss ich heute nicht akzeptieren, wenn er Unsinn redet. Zweitens: Wenn ich Olga schreibe: Nur durch viele verrückte Zufälle habe ich Heiner kennen gelernt, ist das keine Schmälerung unserer Begegnung, es heißt nur, dass wir uns ohne Hilfe des Zufalls nicht kennen gelernt hätten. Drittens: Wenn ich sage: Das Buch kostet nur fünf Mark, finde ich es preiswert. Viertens: Wenn ich sage: Die alte Frau erinnert sich an nichts, nur an diesen einen Tag im Sommer, bedeutet nur so viel wie ›einzig und allein‹ oder ›ausschließlich‹, ähnlich wie im Gebrauch von ›draußen nur Kännchen‹. Nur ist ein Chamäleon. Es verändert seine Bedeutung von Satz zu Satz. Fünftens: Wenn ich dir ein schreckliches Ereignis erzähle und anschließend sage: Ich habe das alles nur geträumt, bedeutet das nicht ›einzig und allein‹ und auch nicht ›ausschließlich‹, sondern: War nicht so schlimm, war nur ein Traum. Sechstens: Wenn ich sage: Morgen, morgen, nur nicht heute oder: Sei du nur still – möchte es im Sinne von ›bloß‹ verstanden werden, und siebtens: Wenn du mir den Bohrer aus der Hand nimmst und sagst: Lass mich das nur machen, heißt das nicht, dass ausschließlich du es machen willst und auch nicht, dass die Arbeit unwichtig ist, sondern: Überlass das mir, ich möchte dich entlasten. Nur ist ein schillerndes Persönchen unter den Wörtern, kapriziös und anspruchsvoll. In manchen Sätzen verlangt es, um nicht missverstanden zu werden, sogar nach einer besonderen Betonung. Wenn ich sage: Ich habe heute nur gelesen, kann das heißen: Ich habe mir einen faulen Tag gegönnt. Betone ich das Nur sehr stark und ziehe es dabei in die Länge, wird daraus die Feststellung, ich sei heute fleißig gewesen, weil ich nuuuuur gelesen habe. Achtens: Warum rege ich mich nur so auf?
    Weil ich den Adler liebe, sagte Heiner, nur anders als dich. Nur im Sinne von ›aber‹ – habe ich das richtig verstanden? Sie konnten wieder lachen. Dennoch trieb Heiner die Begegnung mit dem Adler um. Kosta war auch im Lager ein eiserner Stalinist gewesen. Genossen, die für den Widerstand wichtig waren, versuchte er zu retten, Sympathie und Freundschaft spielten dabei keine Rolle. So waren die Zeiten damals. Und heute? Was wäre, wenn er in Polen lebte, wenn er zu denen gehörte, die der Adler eingeschleuste Agenten und Spione genannt hatte, würde er ihn verfolgen lassen, einsperren, foltern, weil aus dem Genossen ein Feind geworden ist? Oder würde er ihn schonen, weil Freundschaft wichtiger ist als Gesinnung? Zu welchen Taten wäre er selbst fähig gewesen, er, Heiner, wenn seine Genossen in Österreich gesiegt hätten? Gefängnis, Folter und Lager für die Feinde der Arbeiterklasse, weil harte Zeiten harte Methoden verlangen? Gibt es Menschen, die ganz und gar nicht zum Täter taugen, auf keiner Seite der Barrikade? War er so einer? Dann hätte er zum Opfer der eigenen Genossen werden können, was tragischer gewesen wäre als ein Opfer der Nazis. Er schob die Gedanken beiseite. Was wäre wenn – hatte er die Frage nicht selber einmal überflüssig und dumm genannt?

Über Nowa Huta hatte es die Sonne schwer, sie musste kämpfen, damit ihre Strahlen die Erde erreichten. Die Stadt war nach dem Krieg nicht als einfache Hochhaussiedlung geplant worden, Nowa Huta hatte eine Mission, sie sollte ein proletarisches, sozialistisches Arbeiterbollwerk gegen das intellektuelle Krakau sein, das nicht im Traum daran dachte, sich dem russischen Sozialismus zu beugen. Trutzig, mit breiten Alleen, überschau- und beherrschbar war Nowa Huta, als hätten schon die Planer an der Freundschaft zwischen Arbeitern und Machthabern

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