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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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gezweifelt. Eine Viertelmillion Menschen lebten hier, auch Heiners Freund Mietek. Das marode Eisenhüttenwerk, die Neue Hütte, die der Stadt den Namen gab, hatte aus der Siedlung in wenigen Jahren eine schwarze Stadt gemacht. Schwarze Fassaden, schwarze Fensterrahmen, schwarze Dächer, wie Eierbriketts hingen die Blätter an den Bäumen. Die Bewohner schrieben am Abend mit weißer Kreide den Anfangsbuchstaben ihres Namens auf die Straße, weil sich jede Nacht der klebrig-schwarze Ruß sozialistisch gerecht über alles legte, was hier stand und wuchs und parkte. Neben Mieteks Auto stand ein ›M‹. Der Wagen vor ihm hieß ›O‹, der hinter ihm ›P‹. Jeden Tag hängte irgendein Optimist einen Luftballon an den Ast eines Baumes, mal war er rot, mal grün, mal gelb, weiß oder blau. Eine Mahnung: Nicht vergessen, Freunde, die Welt könnte bunt sein.
    Heiners Angaben zu Mietek waren karg. Häftlingsnummer 662. Erster Transport. Lageradel, jünger als er selbst, noch keine sechzig. Auf Mietek freute er sich anders als auf den Adler. Ohne Ehrfurcht, mit einem Strahlen in den Augen. Er lachte, wenn er an ihn dachte, ein verrücktes Haus, sagte er, wirst sehen. Mietek war Chirurg an der größten Krakauer Klinik und arbeitete dort nur, weil es in der Klinik ein Schwimmbad und daneben einen Park gab.
    Was für eine Begrüßung! Sie fielen sich in die Arme, ließen sich los, ballten die Fäuste, tauschten spielerisch ein paar Boxschläge aus, gegen die Brust, gegen die Schultern, umarmten sich wieder, ballten die Fäuste und tanzten vor Freude umeinander herum wie im Ring. Mietek war ein gedrungener Mann, ein Viereck aus Muskeln. Er hatte Lena an sich gezogen wie eine alte Freundin. Seine Brust und sein Bauch waren hart wie Beton. Er hatte muskulöse Hände, sie konnte sich darin gut ein Skalpell vorstellen.
    Wo hast du so gut deutsch gelernt?
    Nie wieder würde Lena einem Polen in Mieteks Alter diese Frage stellen. Sie hatte aus Höflichkeit gefragt, in eine kleine Stille beim Abendessen hinein – aber für Mietek war es das Zauberwort, auf das er gewartet hatte. Er legte das Besteck auf den Tisch und befahl einer unsichtbaren Kolonne: Ein Lied, zwo drei, sprang auf, schlug die Hände gegen die Hosennaht, sah starr geradeaus und sang mit tiefer Stimme: Im Lager Auschwitz war ich zwar/ Hollerie und Hollera!/ Doch denk ich frohgemut und gern/an meine Lieben in der Fern’!/ An jedem Morgen in der Früh’/ Beginnt des Tages Last und Müh’/ Ob Arbeitsdienst, ob Sport uns zwingt/ doch stets ein frohes Lied erklingt/ Doch kommt für uns auch mal die Zeit/ wo aus der Schutzhaft wir befreit/ Dann werden froh wir heimwärts zieh’n/ Ganz gleich, ob’s schneit, ob Rosen blüh’n!
    Heiner sah Lena an, unsicher, ob sie seinen Freund ertrug. Seit sie das Gespräch mit dem Adler so harsch beendet hatte, war sie für ihn kein Garant mehr für harmonische Treffen mit den Kameraden. Vorsichtig sagte er: Lustig, der Mietek, nicht wahr?
    Lena stiegen, während sie dem singenden Mann zuhörte, die Tränen in die Augen. Mietek wusste nicht, wie einsam er aussah, und Heiner bemerkte es nicht, weil er genauso aussah.
    Und kennst du noch die Meilensteine, fragte Heiner den Freund.
    Es gibt einen Weg zur Freiheit, rief Mietek zackig, seine Meilensteine heißen: Gehörsam – Gehorsam verbesserte Heiner. Gehorsam, wiederholte Mietek, Fleiß, Ordnung, Ehrlichkeit, Säuberheit – Sauberkeit verbesserte Heiner. Sauberkeit, Wahrhaftigkeit, Öpfersinn – Opfersinn verbesserte Heiner, und: Liebe zum Vaterland!
    In Polen bin ich ein Anderer, hatte Heiner gesagt und Lena war in diesem Augenblick überzeugt, dass er ohne sie schallend gelacht hätte. Aber ohne sie hätte Mietek nicht gesungen – oder doch? Oder beide gemeinsam?
    Weißt du, Lena, sagte Mietek, wenn der Kapo einen Polen oder Russen, Griechen, Tschechen oder Rumänen verdächtigte, nur stumm den Mund auf und zuzuklappen wie ein Fisch, hielt er sein Ohr an dessen Mund und wehe, da kamen keine deutschen Wörter heraus!
    Ein Lied, zwo drei, befahl er: Bubikopf! Mit ausgebreiteten Armen wie ein Opernsänger stand Mietek in der Küche und schmetterte: Steig ich den Berg hinauf, das macht mir Freude, denn so ein Dirnelein – Dirndelein, verbesserte Heiner – denn so ein Dirndelein, das war mir gut. Sie hat zwei wunderschöne blaue Äugen – Augen, verbesserte Heiner – sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf, der steht ihr gut.
    Diese Lieder, das wusste Lena,

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