Der Schrecken verliert sich vor Ort
drehten Heiner den Magen um, aber wenn Mietek sang und dabei lachen konnte, schien das in Ordnung zu sein. Wenn du Lena beeindrucken willst, sagte Heiner, sing ›Sah ein Knab.‹
Mietek schlug die Faust stolz gegen die Brust. Vier Jahre Intensivkurs Deutsch, sagte er, nie wieder in deinem Leben lernst du so flink und preiswert eine Sprache. Mit jedem Knüppelschlag, bum, hast du ein neues Wort im Kopf. Knab. Bum. Röslein. Bum. Wo steht das Röslein? Auf der Heiden! Du fragst dich: Ist Heiden die Mehrzahl von Heide? Nein, Goethe. Schreckensstarr sitzen dir die neuen Wörter im Kopf und krallen sich fest, damit sie nicht verloren gehen. Die Maid heißt Dirndelein. Die Zunge ringt mit der schwarz-braunen Haselnuss. Aber wenn du am Leben bleibst, kannst du später Goethe singen: Und der wilde Knabe brach’s Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, half ihm doch kein Weh und Ach, musst es eben leiden.
Mietek sah Lena an. Kennst du den sprechenden Baum? Hat dir dein Mann nie vom sprechenden Baum erzählt? Sprachkurs für Anfänger. Pass auf, es war so. Wenn du einem SS-Mann begegnetest, musstest du die Mütze vom Kopf reißen, sie seitlich gegen den Oberschenkel knallen und schreien: Nummer 662 meldet sich gehorsam, aber manche Kameraden hatten lange Nummern: Einhundertvierunddreißigtausendzweihundertsechsundsiebzig – da verknotet sich die Zunge, die nie ein deutsches Wort gesprochen hat und dafür gab es den Nachhilfebaum, der uns helfen sollte, deutsch zu lernen. Eure Sprache muss ein Schäferhund erfunden haben, sie klang für uns wie Knurren und Kläffen. Stell es dir vor: Von scharfen Hunden gehetzt, rasten zehn, zwölf Männer, die dem deutschen Bellen nicht gewachsen waren, auf den sprechenden Baum zu, zogen sich an seinen Ästen hoch, je schneller, je höher, desto sicherer warst du. Die Hunde, die Nazis, die vor Lachen schrieen, das Knacken und Brechen der Äste und die Schreie der abgestürzten Männer, die von den Hunden angefallen wurden, kannst du dir das vorstellen? Ein Baum voller panischer Vögel, die ihre Nummern brüllten: Fünftausendvierhundertzweiunddreißig. Einundzwanzigtausenddreihundertelf. Sechshundertzweiundsechzig. Und unter dir knackten die Äste. Er horchte seinen Worten nach. Er sah den Baum.
Sag Lena, auf welchem Baum hast du Polnisch gelernt?
Im Sommer unter einer Kastanie im Garten, im Winter in der Bibliothek meines Vaters. Immer sonntags zwischen elf und eins. Es gab Tee mit Sahne. Die Lehrerin kam aus Warschau und blieb zum Mittagessen. Ihre Hände rochen nach Rosenwasser.
Sie hatten Mietek einen silbergrauen Jogginganzug mitgebracht, der Stoff war weich und bequem.
1945, Mieteks Beine und Arme waren magerer als die dünnsten Äste am sprechenden Baum, erfand er eine Disziplin, die er Dreisport nannte. Im See hinter der Schule versuchte er die ersten Schwimmzüge. Erst zwei, dann vier, dann sechs, jeden Tag zwei mehr. Dann stieg er auf ein verbeultes Fahrrad, fuhr bis ans Ende der Straße, ruhte aus, radelte zurück und versuchte, ein paar Meter zu laufen. Kein Tag ohne dieses Programm. Wo immer er war: Er schwamm, radelte, lief. Keine Nacht war zu dunkel, kein Morgen zu früh, kein Wind zu kalt, kein Ruß zu schwarz. Die Arme wurden kräftiger, an den Beinen wuchsen Muskeln, bis heute geht Mietek nicht ins Bett, bevor er nicht mindestens einen halben Marathon gelaufen ist. Nur ausgepumpt sackte er so tief in den Schlaf, dass ihn die Träume nicht erreichten.
Nach dem Abendessen schlang er einen langen Schal um den Hals, versprach eine große Verzäuberung um Mitternacht – Verzauberung, verbesserte Heiner. Mietek lachte – ein Lied zwo, drei: Liebe Lola! – und warf die Tür hinter sich zu. Sie hörten ihn durchs Treppenhaus springen und singen: Liebe Lola, lass das Weinen/ Lass das Weinen sein/ Oftmals denkt er an seine Lola/ Wenn der Mond am Himmel scheint. Heiner sagte: Bei diesem Lied haben alle an ihre Liebste gedacht und beim Singen nach innen geweint. Als sie Mietek nicht mehr hörten, sagte Heiner: Schau Lena, Sport in Auschwitz …
Lena band sich Mieteks Schürze vor den Bauch, spülte Teller und Tassen.
Hörst du zu?
Sie stellte Gläser für den Wodka auf den Tisch. Ich hör zu, aber lass mich räumen, ich muss mich bewegen.
Schau Lena, einmal gehörten Mietek und ich zu den Auserwählten dieser Sportstunden. Wir hatten Hunger, wir hätten morden können für einen Krümel Brot und dann kommt ein SS-Mann daher und sagt: Ihr faulen Säcke,
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