Der Schrecken verliert sich vor Ort
nie verstehen.
Ist gut, Mietek, lass mich los. Ersticken ist kein schöner Tod, mein Freund.
Siehst du, sagte er erleichtert, du kannst schon wieder Witze machen.
Lena putzte sich die Nase in Mieteks Hemd. Um euch zu ertragen, muss man total verrückt sein.
Vom Meer her nähert er sich in großem Bogen der Warft. Ihre abweisende Geschlossenheit fesselt ihn jeden Tag neu. Sobald er sicher ist, dass Lena ihn nicht mehr sieht, zieht er aus der Innentasche des Mantels sein Zigarettenetui.
Sie hatten die Landschaft, die Mietek ihm verordnete, gemeinsam besichtigt. Lena neugierig, Heiner mit dem Gefühl, er begutachte seinen künftigen Verbannungsort, wobei er Verbannung, wenn es nicht gerade Sibirien war, nicht als die schlimmste Strafe empfand. Gefängnis war schlimmer, Kerker, Folter, Psychiatrie. Sie waren nicht im Sommer gefahren, wenn der hohe Himmel selbst verrottete Ställe verklärt, sondern im Winter, wenn Häuser missmutig aussehen. Schweigend fuhren sie an der Küste entlang, umrundeten die Halbinsel Eiderstedt, fuhren weiter nach Norden. Nach langem, stummem Schauen in die Landschaft sagte Heiner: Ich erzähle dir, was ich sehe. Lena nickte: Tu das. Er schwieg. Er schwieg lange. Dann sagte er: Ein Huhn. Dann schwieg er wieder. Lena fuhr durch Dörfer, die aussahen, als wären die Bewohner geflohen. Heiner sagte: Fünf Kühe. Am Nachmittag schneite es. Als die Sonne durch die Wolken schien, glitzerten die Äcker wie der Himmel bei Feuerwerk. Der Schnee legte sich auf die Schafe, sie sahen aus wie kleine Wanderdünen. Hübsch, sagte Lena – oder?
Heiner meldete eine Hecke und zwei schwarzgelockte Rinder.
Galloways, sagte Lena. Er nickte. Lies, was auf dem Pfeil steht, der auf sie zeigt.
Wurst.
Arbeit macht frei, sagte Heiner, ist dagegen fast Poesie.
Lena hielt den Wagen an. Wenn du hier nicht leben magst, kehren wir um.
Er stieg aus, sah in die Landschaft, schien sie mit den Augen auszumessen. Sein Blick wanderte von seinen Fußspitzen über die Felder, die Hecken und Furchen, die Weiden, den Stacheldraht. Als er dort angekommen war, wo Himmel und Erde zusammenstießen, sagte Heiner: Eine Landschaft für Zofia.
Weiter nördlich, nahe der dänischen Grenze, entdeckte er Hügel, die den Augen Halt gaben. Als sie sich einer besonders großen Erhebung mit imposanten Höfen und einer Kirche in der Mitte näherten, rief er: Halt mal, Lena.
Auf einem Schild stand ›Dorfgemeinschaft‹, aber einladend sah das Dorf nicht aus, eher trutzig, abweisend, trotzdem schön. Rote Backsteinstege führten in das Herz der Siedlung, aber sie trauten sich nicht hinein. Ein Mann hackte Holz. Er grüßte, bückte sich und sah sie mit einem fragenden Blick an. Kann ich helfen? Danke, nein. Für touristische Neugier war der Flecken zu intim. Sie fuhren in den nächsten Ort, kauften einen Reiseführer, bestellten im ›Café Wattenwurm‹ Grog mit Rum und lernten, dass die Hügeldörfer Warften heißen und vor vielen hundert Jahren nicht zum Festland gehörten, sondern als Halligen im Meer schwammen. Man hatte die Häuser auf Hügel gebaut, um sie vor dem ärgsten Feind zu schützen, dem Meer, das, wenn es wütend war, brüllend über ihr Land herfiel, Tiere und Menschen in den Abgrund riss. Da passen wir hin, sagte Heiner, zu den Verrückten, die nicht weichen, die wissen, dass sich das Unheil wiederholt und trotzdem kämpfen, immer wieder David gegen Goliath. Er bestellte einen zweiten Grog, konnte sich allmählich mit seiner Verbannung, wenn sie denn hier sein sollte, anfreunden.
Sie besichtigten Häuser, die zu groß waren. Sie standen in Hütten, in denen die Decken so niedrig waren, dass sie mit den Köpfen an die Balken stießen. Sie fanden einen Makler, der einen Satz sagte, den sie schon kannten: Lassen Sie sich Zeit, das Haus muss zu Ihnen passen und Sie zu dem Haus. Sie sahen einen Hof, dem man ansah, wie die Generation vor ihnen gelebt hatte. In der kleinen Küche: ein Ofen, ein Tisch, eine Bank. In der Schlafkammer der Kleiderschrank und das Ehebett, neben dem Bett die Tür zum Stall, ein Leben mit viel Arbeit und wenig Schlaf. Heiner öffnete die Tür, schritt den Stall ab, als wolle er ihn ausmessen. Auf dem blanken Boden lagen Reste vom Stroh. Über jeder Box hing ein Holzschild mit schwungvoller Inschrift. Rechts haben Hanna, Frieda und Karla, Anita, Dora und Dina gestanden und gegenüber Ulla, Mara, Maria. Langsam, als wolle er sich die Namen einprägen, schritt er die leeren Boxen ab. Wienke, Trude,
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