Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Gasse, trank billigen, verbrannten Kaffee aus seinem Pappbecher und wartete darauf, dass die Spurensicherung und der Deputy Coroner ihre Arbeit am Tatort zu Ende brachten. Er schärfte dem DC die Bedeutung der Blutuntersuchung und der toxikologischen Analyse ein.
»Rohypnol«, erklärte er. »Darauf kommt es mir an. Oder ein anderes Benzodiazepin.«
Als der DC mit der Leiche davonfuhr, war es nach fünf Uhr. Wenige Minuten später löste sich der Leiter des Spurensicherungsteams aus den Schatten der Gasse und sagte Parrish das, was er nicht hören wollte.
»Keine Kleidungsstücke, keine offensichtlichen Kampfspuren, keine Bissspuren, keine Fingerabdrücke am Nacken, nur die Strangulationsmale, allerdings haben wir in ihren Haaren ein paar Fasern entdeckt. Vom Karton lassen sich keine brauchbaren Fingerabdrücke nehmen. Die Oberfläche ist zu rau. Bei den Ziffern auf der Lasche handelt es sich um die Typennummer des Kartons selbst. Sie hat nichts mit dem Produkt zu tun, das darin transportiert wurde. Ich habe die Nummer ins Büro durchtelefoniert und jemanden nach dem Hersteller suchen lassen … Das Ding stammt aus China, von wo jährlich etwa vierzig Millionen Kartons dieser Größe in die USA geliefert werden, und zwar ins ganze Land, wobei mehr als fünfundzwanzig Prozent an der Ostküste landen. Sie werden für Möbel, Klimaanlagen, Fahrzeugteile und alles Mögliche verwendet. Wir nehmen den Karton mit, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das Labor Ihnen mehr sagen kann, als wir schon wissen. Also praktisch nichts.«
Parrish bedankte sich und sah geduldig zu, wie der Mann und sein Team ihren Kram zusammenpackten und verschwanden.
Mit Radick im Gefolge ging er in die Gasse hinein, wo sie zunächst schweigend stehen blieben. Erst nach einer Weile ergriff Radick das Wort.
»Wir haben mit der Entsorgungsfirma gesprochen«, sagte er. »Es sind zwei Männer, die hier vorbeikommen – der Fahrer und der Kerl, der die Container hinten am LKW befestigt und aufpasst, dass sie ordnungsgemäß geleert werden. Beide haben weder den Karton noch sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt. Wir haben ihre Namen und Adressen, außerdem einen Ansprechpartner bei der Firma, aber ich glaube nicht, dass sie uns mehr sagen können, als wir schon wissen.«
Parrish sagte nichts. Genau so hatte er es erwartet.
Ein wenig mehr als drei Stunden waren seit der Entdeckung des Mädchens verstrichen, und zum jetzigen Zeitpunkt – während sie hier standen und in die Gasse schauten – wussten sie überhaupt nichts. Es war, als hätte das Mädchen nie existiert, weder im Leben noch im Tod.
Alle Opfer sind nicht gleich.
Das war etwas, das sein Vater einmal gesagt hatte, noch vor dem OCCB , noch vor allem. Erst jetzt – nach vierundzwanzig Jahren bei der Polizei – begriff Parrish die ganze Dimension dieser Feststellung.
»Frank?«
»Ich gehe mir beim Gerichtsmediziner ein Bild des Mädchens besorgen«, erklärte Parrish. »Ich drucke einen ganzen Stapel davon aus und laufe damit in jede Abteilung des Jugendamts und der Adoption Agency, wenn es sein muss. Wenn das Mädchen nicht bei ihnen gespeichert ist, dann …« Er schüttelte den Kopf, blickte auf seine Schuhe hinunter und sagte nichts mehr.
An Radick vorbei, ging er zurück zum Wagen.
Vierzig Minuten später hatten Parrish und Radick aus der Gerichtsmedizin Fingerabdrücke und Fotos bekommen. Parrish schickte Radick los, um die Abdrücke mit ihrer Datenbank abzugleichen, während er zu Fuß die Fulton Street hinunter zum Gebäude des Familiy Welfare District Five South ging. Als er ankam, war bereits geschlossen, und obwohl er mit den Sicherheitsleuten im Eingangsbereich sprach, konnten sie nichts für ihn tun. Das Gebäude würde bis zum nächsten Morgen leer und verschlossen bleiben.
Auf dem Weg zurück erreichte ihn ein Anruf von Radick.
»Wir haben einen Namen«, erklärte er mit tonloser Stimme. »Kelly Duncan. Sechzehn Jahre alt. Der Vater ist tot, die Mutter lebt. Sie ist seit zwei Jahren beim Jugendamt registriert.«
»Ist das sicher?«
»Ja, ganz sicher. Wir hatten ihre Fingerabdrücke wegen zweier Übergriffe gespeichert.«
»Wer war der Täter?«
»Der Vater. Er ist erst vor ungefähr einem Jahr gestorben. Überdosis im Juli 2007.«
»Und sie wohnte immer noch bei der Mutter?«
»Ja, es sieht so aus.«
»Wo?«
»Seventh Street, unten am Kanal.«
Parrish antwortete nicht direkt. Die Seventh Street lag nur drei oder vier Blocks von Caitlins Wohnung entfernt.
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