Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
kleine Mädchen war in Tränen aufgelöst und ließ sich von ihrer Mutter tragen. Parrish erkannte die Symptome – Müdigkeit, Kälte, höchstwahrscheinlich auch Hunger – und wusste, dass die Mutter nicht zur Ruhe kommen würde, bis das Kind gefüttert und eingeschlafen war. Wenn man selbst Kinder hatte, vergaß man manche Dinge nie.
Parrish lächelte, als Mrs Langham den Fahrstuhl betrat. Wieder diese Verlegenheit im Blick, dieser Anflug von Peinlichkeit – nicht nur wegen der räumlichen Nähe zu jemandem, bei dem sie nicht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Parrish spürte auch jenes instinktive Bedürfnis, sich zu entschuldigen, das alle Eltern überfiel, wenn ihre Kinder möglicherweise anderen Menschen zur Last fielen.
»Ja, was ist denn hier los?«, fragte Parrish. Er richtete seine Frage an Grace, erhielt aber keine Antwort. Den Kopf auf der Schulter ihrer Mutter und Parrish direkt in ihrem Blickfeld, konnte das Kind ihn aber kaum ignorieren.
»Gracie?«, fragte er, und ein kurzes Aufflackern in ihren Augen verriet, dass sie ihn gehört hatte.
»Na, dann hörst du mir ja doch zu, hm? Ich habe nämlich eine Frage an dich.«
Grace starrte ihn, Tränen in den Augen und stoßweise atmend, an.
»Bist du bereit?«
Das Mädchen riss die Augen auf.
»Wie alt bist du, Gracie?«
»S-sechs«, sagte sie. »Sechs und ein Viertel.«
Mrs Langham drehte sich ein Stück zur Seite, damit sie Parrish ansehen konnte. Sie wirkte leicht verwirrt. Sie begriff, dass es in diesem Moment auf ihre Anwesenheit nicht ankam.
»Sechs und ein Viertel? Na, dann schauen wir mal. Wie viel ist das? Das sind zweitausend, zweitausendeinhundert, zweitausendzweihundert … und achtzig ungefähr. Zweitausendzweihundertundachtzig Tage. Ungefähr. So alt bist du jetzt.«
Grace nickte. Sie hatte zu weinen aufgehört.
»Also, jetzt kommt ein Spiel … Bevor du aus dem Aufzug aussteigst, musst du überlegen, welcher dein liebster Tag von allen ist.«
»Der liebste?«
»Genau. Der aller-aller-allerliebste von allen.«
»Disneyland!«, sagte sie plötzlich.
»Disneyland? Das glaube ich nicht! Du warst in Disneyland?«
»Ja! Ich war in Disneyland!«
»Und wie toll war dieser Tag?«
Die Glocke des Aufzugs läutete, er wurde langsamer und hielt schließlich an.
»Der tollste Tag von allen!«, sagte Grace und fing an zu lachen.
Die Fahrstuhltüren glitten auf.
»Beim nächsten Mal kannst du mir alles davon erzählen«, sagte Parrish. »Aber jetzt muss du etwas essen und dann ins Bett gehen, okay?«
Als sie mit ihrer Mutter den Fahrstuhl verließ, lachte Grace immer noch.
Von ihrer Wohnungstür warf Mrs Langham einen Blick zurück und formte mit den Lippen leise die Worte: Vielen Dank. Dann schlossen sich die Aufzugstüren.
Ich habe Mickey und Minnie gesehen! , hörte Parrish Grace noch rufen, als der Fahrstuhl schon unterwegs in die nächste Etage war.
In seiner Wohnung schüttelte Parrish Mantel und Jacke ab, trat in die Küche und goss sich zwei Fingerbreit Bushmills ein. Dann ging er ins Wohnzimmer und rief Eve Chancellor an; die Leitung war besetzt.
Er dachte an Caitlin. Unabhängig von der Linie, die einen Kreis zweiteilt, passten die beiden Hälften perfekt zueinander. Wenn er sie jetzt anrief, würde sie ihn nach dem Trinken fragen. Sie verstand es nicht; verdammt, niemand verstand es richtig. Wie Mitch Hedberg gesagt hatte: Alkoholismus ist die einzige Krankheit, wegen der man angebrüllt wird. Kurz danach war er an einer Überdosis gestorben.
Caitlin – das Strahlendste all seiner Tage, das Düsterste all seiner Nächte. Und ein totes Mädchen nur drei Blocks von ihrer Wohnung entfernt.
Er nahm das Telefon und wählte noch einmal Eves Nummer. Mailbox. Also legte er auf und machte sich wieder auf den Weg zur Flasche in der Küche.
33
Mittwoch, 10. September 2008
»Wie fühlen Sie sich heute Morgen?«
»Eigentlich ganz gut. Ganz okay.«
»Wie läuft es mit dem Fall?«
»Wir hatten gestern wieder ein Mädchen.«
»Noch ein Opfer?«
»Ja.«
»Und …?«
»Wir warten auf die toxikologische Untersuchung. Wenn sie betäubt wurde, glaube ich, dass es auf einen gemeinsamen Mörder hinausläuft. Von der äußeren Erscheinung ist das Mädchen ein ganz ähnlicher Typ wie die anderen, und auch sie hat sich die Fingernägel lackieren lassen. Es fühlte sich an , als wäre sie derselbe Typ, verstehen Sie? Und falls sich tatsächlich herausstellt, dass kein Zusammenhang besteht, habe ich so einen
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